929-2004

 

1075 Jahre Lenzen

 

Lenzens Historie

 

Autor: Georg Grüneberg, Lenzen, 2004

 

Quelle: Märkische Allgemeine Zeitung

 


Inhaltsverzeichnis

 

1. Teil: Eintritt in die Geschichte mit einer Schlacht 3

2. Teil: Wüstes Fehdewesen und Raubzüge im Mittelalter 6

3. Teil: Jahrzehntelang von Truppen ausgeplündert 9

4. Teil: Große Feuersnot und viel Leid durch Hochwasser   12

5. Teil: Anfeindungen und Widerstand waren groß 15

6. Teil: Pestilenz und Scheiterhaufen 18

7. Teil: Staatspapiere reisten in silbernen Büchsen 20

8. Teil: So lange gestritten, bis der Turm einstürzte 23

9. Teil: "Er redete ein schauderhaftes Gemisch ..." 26

10. Teil: Komponisten, Chronisten und Heimatdichter 29

11. Teil: Das 19. Jahrhundert - Als die Stadt mehr Einwohner hatte als heute 35

 


19.05.2004

1. Teil: Eintritt in die Geschichte mit einer Schlacht

In diesem Jahr begeht Lenzen ein Stadtjubiläum: Seine Ersterwähnung ist 1075 Jahre her. Damit ist Lenzen der Ort in der Prignitz, der auf die älteste dokumentierte Geschichte verweisen kann.

Neben den lateinischen Bezeichnungen Leontium und Leontinum tauchen bei den Chronisten unter anderem die Schreibweisen Lunkini, Lenzin und 1321 erstmals die heutige Schreibweise Lenzen auf. Werfen wir einen Blick zurück in die Geschichte.

Die Chronik der Stadt Lenzen von Carl Zander aus dem Jahre 1901 berichtet, dass die ersten bekannten Bewohner der Prignitz nicht die Slawen, sondern Germanen waren. Und zwar war es der zum Bunde der Sueven gehörige Stamm der Langobarden, der sich schon lange vor der slawischen Zeit hier angesiedelt hatte. "Da dieselben aber bereits im 4. Jahrhundert nach Christus von den Wogen der Völkerwanderung mit hinweggerissen wurden, noch ehe sie deutlich in den Gesichtskreis der Kulturvölker jener Zeit getreten waren, so haben wir über diese ältesten uns bekannten Bewohner der Prignitz nur dürftige Kunde."

Anders ist es mit den Slawen oder Wenden, wie sie von den Germanen genannt wurden. Sie sind vom polnischen Flachland spätestens im 6. Jahrhundert in das hiesige Gebiet eingewandert und nahmen die von den Langobarden verlassenen Wohnplätze in Besitz. Politisch gesehen handelte es sich um kleine und kleinste Verbände, die durch mehr oder weniger selbstständige Stammesfürsten regiert wurden. Nördlich des Fläming war der Siedlungsraum der altpolabischen Bevölkerung (Polaben = Elbslawen). Bekannte Stämme sind die Dossanen an der Dosse/Prignitz, die Ukranen in der heutigen Uckermark, die Sprewanen an Dahme und Spree, die Tolensanene an der Tollense im östlichen Mecklenburg und schließlich die Linonen, die in der Westprignitz mit einem Stammesfürsten bezeugt sind. Sie siedelten westlich und östlich der Löcknitz; ihr Hauptort war das häufig umkämpfte Lenzen.

Das Linonengebiet war seit altslawischer Zeit dicht besiedelt. Die vielen slawischen Ortsnamen allein um Lenzen, wie zum Beispiel Bochin, Milow, Deibow, Steesow, Wootz, Kietz, Ferbitz, Sterbitz, Rudow, Baarz, Gaarz, Rambow, Boberow und Mesekow bezeugen diese Tatsache. Linkselbisch saßen die Franken, mit denen die Slawen zunächst friedliche Beziehungen unterhielten.

Wie Zander weiter schreibt, wandelte sich dies bald in bittere Feindschaft, seitdem die slawischen Wilzen sich mit den Sachsen gegen Karl den Großen verbündet hatten. Um diese dafür zur Rechenschaft zu ziehen, unternahm Karl im Jahre 789 einen Wenden-Feldzug, auf dem seine Heerführer über zwei über die Elbe geschlagene Bücken in das slawische Gebiet vordrangen. Die Lokalisierung dieses Elbüberganges ist umstritten. Zanders Chronik berichtet dazu: "Jedenfalls in diese Zeit fällt nun auch die Entstehung oder doch mindestens die Befestigung Lenzens, welche die Wenden zum Schutze vor den Franken anlegten. Wohl war die Gegend wegen ihrer tiefen Lage recht wenig zur Anlage eines solchen Platzes geeignet. Aber der Umstand, dass in Lenzen eine bedeutende Handelsstraße von Sachsen nordwärts nach Pommern führte, wo an der Odermündung die wichtige Stadt Imne (später Wollin) lag, ferner die Tatsache, dass Karl der Große bald nach dem ersten Vordringen seiner Heere in unsere Gegend auf dem jenseits gelegenen Höhbeck im Jahre 808 sogar das Kastell Hohbucki gebaut und mit einer Besatzung versehen hatte, machte es den Wenden zur Pflicht, mit Überwindung aller Terrainschwierigkeiten hier eine besonders starke Verschanzung anzulegen."

Eine ältere Befestigung und darüber eine jüngere, mehrfach verstärkte und überbaute Wallanlage wurden bei archäologischen Ausgrabungen auf der Burg Lenzen in den Jahren 2001 bis 2003 teilweise freigelegt.

Eine Ausstellung über die Slawen in Lenzen und deren Befestigungsanlage in Verbindung mit dem inzwischen restaurierten Zinnfigurendiorama der Schlacht bei Lenzen ist nach wie vor geplant.

Auf wirklich historischen Boden führt uns das Jahr 929. Heinrich I., deutscher Kaiser (919-936), hatte, durch die unaufhörlichen Überfälle der Wenden in die sächsischen Lande gereizt, im Jahre 927 die wendische Festung Brennabor eingenommen. Kaum aber hatte der Sieger den Rücken gekehrt, erhoben sich die unterdrückten Wenden aufs Neue gegen Heinrich, indem sie die wenigen vorgeschobenen Posten mit der zurückgelassenen Besatzungen überfielen.

Chroniken berichten, dass die Redarier es sogar wagten, die Elbe zu überschreiten, um den Flecken Walsleben in der Altmark niederzubrennen und deren Bewohner zu töten. Heinrich übertrug die Bestrafung dieses Frevels dem über die Redarier gesetzten Legaten Bernhard und dem Grafen Thietmar von Thüringen.

Mit starker Heeresmacht, Fußvolk und Reiterei zogen sie vor Lenzen, das damals offensichtlich als eine der wichtigsten Wendenfestungen gegolten haben muss, und schlossen den Ort am 1. September 929 ein.

Aber von allen Seiten kamen die Wenden ihren bedrängten Stammesgenossen zur Hilfe. Vier Tage erfolgloser Belagerung waren vergangen, als ein Überläufer dem Legaten Bernhard berichtete, dass die vor Bäckern stehenden Wenden einen Überfall vorbereiteten.

Doch tiefe Finsternis und strömender Regen verhinderten diesen Plan. Darauf beschloss Bernhard in der Frühe des 5. September 929 den Angriff. Es wird von einer großen Schlacht berichtet. Wer dem Schwert entkommen war, soll (und das war der größte Teil) in den Sümpfen der Löcknitz (Trebensee) und des Rudower Sees (Lenzener Mooren) ums Leben gekommen sein.

Tags darauf ergab sich die Besatzung; die Männer erhielten nach Auslieferung der Waffen freien Abzug, die Frauen und Kinder wurden als Gefangene abgeführt.

Der Chronist Widukind von Corvey nennt 200 000 Gefallene, ein Quedlinburger Chronist 120 000. Beide Zahlen werden deutlich zu hoch sein, doch bezeugt dies, welche bedeutende Schlacht in Lenzen geschlagen wurde.

Trotz jenes errungenen Sieges über die Slawen bedurfte es noch fast zweihundert Jahre und vieler weiterer Kämpfe, bevor die Prignitz kolonisiert und christianisiert werden konnte.

Kaiser Otto I. (936-973) hatte die Prignitz als Bestandteil der Nordmark seinen Markgrafen Gero mit unterstellt und dort auch 946 das Bistum Havelberg gegründet. Ihm oblag die kirchliche Aufsicht über die Prignitz. Mönche über Mönche zogen in das umliegende Land, um den Wenden das Christentum zu bringen. Aber die Hast und Eile, mit der sie verfuhren und der Übermut und die Härte mit der Gero vorging, reizten die Wenden zu immer neuer Empörung gegen die Unterdrücker ihrer Freiheit.

Am 29. Juni 983 kam es zur Eroberung des verhassten Bischofsitzes Havelberg mit der Ermordung der christlichen Bevölkerung und des Bischofs, 1056 zur Schlacht bei Werben und am 7. Juni 1066 wurde der zum Christentum übergetretene Wendenfürst Gottschalk, der in Lenzen ein Kloster gegründet hatte, von seinen heidnisch gebliebenen Stammesgenossen unter Führung seines Schwagers Blusso erschlagen. Der Priester Eppo wurde den heidnischen Göttern auf dem Altar geopfert. Die Christianisierung und Kolonisierung der ostelbischen Gebiete begann blutig.

Georg Grüneberg, Lenzen  (MAZ vom 08./09.05.04)

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19.05.2004

2. Teil: Wüstes Fehdewesen und Raubzüge im Mittelalter

Versuche friedlicher Missionspolitik in der Prignitz in ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts waren noch wenig erfolgreich. Erst der so genannte Wendenkreuzzug von 1147, als Alternative zum geforderten Kreuzzug ins Heilige Land, bot den Auftakt des Expansions- und Siedlungsgeschehens östlich der Elbe. Allen Teilnehmern sicherte der Papst sowohl geistlichen als auch weltlichen Lohn zu. Deshalb schlossen sich ihm in großer Zahl weltliche und geistliche Fürsten an. Alle waren sie Territorialherren, alle expandierten in dieser Zeit oder wollten es tun. 60000 Krieger waren beteiligt.

Der Kreuzzug endete nach wenigen Wochen. Die deutschen, vor allem die ostsächsischen Fürsten hatten gemeinsam ihr Ziel erreicht. Erst die zweite Etappe, die Landnahme, in der es um die Teilung der Beute ging, spaltete sie. Die rivalisierenden Fürsten bemühten sich zunehmend um Herrschaftsbildung und -sicherung. Die Siedlungspolitik war dabei eines der wichtigsten Mittel. Diese war legitimiert durch König Konrad III., der schon 1150 mit der Bestätigung des Bistums Havelberg das Recht zur Ansiedlung von Menschen jeglicher Herkunft und Nation, gleich welchen Gewerbes, verkündete. „Schriftliche Rechtstitel über konkrete Ortsgründungen, Ortsgründer und Lokatoren, Gründungszeit und -umstände fehlen, und auch spätmittelalterliche Dokumente belegen nur punktuell das vorausgegangene Siedlungswerk“, schreibt Lieselott Enders in ihrem im Jahre 2000 erschienenen Buch „Die Prignitz, Geschichte einer kurmärkischen Landschaft vom 12. bis zum 18. Jahrhundert“. In den Siedlungsprozess geben von Herkunftsnamen abgeleitete Personennamen Einblick. Bis zur Mitte des 13.Jahrhunderts werden 25 Namen von Edelleuten, Rittern und Knappen bekannt; bis 1300 kommen 55 weitere hinzu. Die Familiennamen von Giesenschlag, von Grabow, von Herzfelde und von Karstedt aus westelbischem Altsiedelland sind mit Ortsnamen von Neugründungen in der Prignitz identisch, sodass deren Namensträger eindeutig als Lokatoren (Ortsgründer) gelten können. Die drei ihrer Ersterwähnung nach ältesten Geschlechter der Prignitz sind die Edlen Gans, von Klitzing und von Wartenberg.

Trotz der großen Zahl von Ortsneugründungen, von denen viele im Spätmittelalter wieder wüst wurden, zum Beispiel Jakel, Rudow, Oker bei Lenzen, ist der Anteil slawischer Ortsnamen um Lenzen überrepräsentiert. Das hängt mit der räumlichen Durchmischung einheimischer und auswärtiger Siedler von Anbeginn an in unserem Raum zusammen, ohne dass immer sofort eine Zusammenlegung der Alt- und Neusiedlungen erfolgte. Als Beispiele seien Deutsch- und Wendisch Wootz erwähnt, später Groß und Klein Wootz und Wendisch Warnow, später Klein Warnow.

Die Grafen von Dannenberg und Lüchow waren wahrscheinlich am Wendenkreuzzug und zwar in dem von Heinrich dem Löwen angeführten nördlichen Zug beteiligt. Im Jahre 1190 überließ Bischof Isfried von Ratzeburg den Edlen zu Putlitz, die damals den Grafen von Dannenberg und Schwerin unterstanden, den Zehnten im Lande zwischen Elbe und Elde. Die primäre Herrschaftsbildung der Grafen in der „terra“ Lenzen ist nicht bezeugt, doch nicht auszuschließen, heißt es bei Enders.

Inzwischen hatten sich Kaufleute und Gewerbetreibende am Fuße der Lenzener Burg niedergelassen. Vor 1219 war Graf Heinrich von Schwerin vom brandenburgischen Markgrafen mit Lenzen belehnt. Dieser Umstand bescherte Lenzen einen berühmten Gast. Im Mai 1223 wurden der Dänenkönig Waldemar II. und sein Sohn auf der Insel Lyö gefangen genommen. Das brandenburgische Lenzen, entlegen wie es war, schien der rechte Aufbewahrungsort zu sein. Die Chroniken sind voll von diesem Ereignis, und eine Zeit lang mag die kleine Burg Lenzen, in der „einer der mächtigsten Könige des europäischen Nordens, einer der größten Männer seiner Zeit“ sehnsüchtig der Freiheit harrte, in vieler Munde gewesen sein.

Zwischen 1227 und 1237 erhielt Lenzen das Stadtrecht durch den Grafen Gunzelin von Schwerin. 1237 gehörte Lenzen neben Dömitz und Dannenberg den Grafen von Dannenberg. Als Marktort war Lenzen inzwischen voll ausgebildet, was auch durch die Tatsache bestätigt wird, dass im gleichen Jahre den Lübecker Bürgern Abgabenfreiheit in Lenzen gewährt wurde.

Im Jahre 1252 ist der brandenburgische Markgraf Otto III. (1220-1267) wieder direkter Herr auf Lenzen. Er verleiht nun das Stadtrecht gemäß den anderen brandenburgischen Städten, die Befreiung von allen Zöllen und Abgaben und bestätigt auch die zuvor vom Grafen Gunzelin von Schwerin und Bernhard von Dannenberg zuvor gewährten Rechte. Dank der günstigen geographischen Lage an der Löcknitz oberhalb deren Einmündung in die Elbe entwickelte sich Lenzen rasch zu einem bedeutenden Handelsplatz mit Hafen. Zugleich war der Ort Transitstation auf dem Landweg vom Osten her nach Hamburg, sowie mittels Fährbetrieb über die Elbe nach Lüneburg und aus Magdeburg in Richtung Schwerin und Rostock. Im Jahre 1288 ist auch der Handel von Lenzener Kaufleuten mit Hamburger Bürgern belegt.

Zu Beginn des 14. Jahrhunderts wurde die Stadt im Norden um die Neustadt erweitert. Im Jahre 1319 ist Lenzen bereits mit Mauern, Toren und Türmen befestigt. Zusätzlich bot die Löcknitz im Süden und Westen einen natürlichen Schutz und im Norden der Trebensee, der durch den Rudower See gespeist wurde. Im Osten war die Stadt durch zwei parallel verlaufende Gräben und Kanäle gesichert, den Stadtgraben (Hagen - Stumpfer Turm - Schulhof - Löcknitz) und die hinter der Burg verlaufende Flut. Das mittelalterliche Lenzen hatte zwei Stadttore, das Seetor und das Marien- oder Bergtor; nach der Stadterweiterung kam das Heide- oder Hamburger Tor hinzu. Außer diesen drei Toren, an denen Zoll erhoben wurde, gab es noch zwei kleine Wasserpforten an der Löcknitz und am Scharfrichterturm sowie einen Zugang zur Burg. Das slawische Fischerdorf Körbitz, das bis 1893 selbstständig war, konnte Lenzen früher nur über die Burg erreichen. Die Stadtmauer war nach einer historischen Beschreibung über drei Meter hoch und 1,20Meter breit. Sie hatte eine Länge von 2500 Fuß, rund 785Meter.

Erhalten sind aus ältester Zeit der Burgturm, der allerdings noch Schießscharten hatte, Anfänge des Kirchenbaues, der Stumpfe Turm, der damals aber ein Kegeldach hatte mit Resten der Stadtmauer und die Reste des Scharfrichterturmes Achter d' Muer.
Zu den bedeutenden Persönlichkeiten, die in damaliger Zeit in Lenzen weilten, gehört auch Kaiser Karl IV., dem die Stadt Prag ihren glänzenden Aufstieg verdankt. Er weilte im Oktober und November 1374 in Lenzen, um hier Urkunden zu unterzeichnen. Wie so oft in der Geschichte Lenzens ging es auch hier wieder um die Verpfändung der Stadt. Durch den ständigen Wechsel der Lehnsherrschaften bis zum 15.Jahrhundert und den damit verbundenen größtmöglichen Ausnutzungen ihrer Lehnsrechte hat Lenzen sehr gelitten. 1336 wurde die Stadt zusammen mit Dömitz für 6500 Mark Silbers an den Grafen Heinrich von Schwerin und seine drei Vettern verpfändet und wechselte 1350 sogar als Heiratsgut den Besitzer.

Als besonderen Nachteil für die Stadt hatte es sich erwiesen, dass sie zu fast allen Zeiten Grenzort war und damit in die Zwistigkeiten ihrer Nachbarn geriet, so der Herzöge von Mecklenburg und Pommern, von Lüneburg und des Erzbischofs von Magdeburg.
Unter der Herrschaft der Bayern und Luxemburger, die dem Land meist fernblieben, obgleich sie seine Regenten waren, brachen geradezu chaotische Zustände aus. Wüstes Fehdewesen griff immer weiter um sich, kühne Raubritter belagerten die Landstraßen und plünderten die Reisenden aus. Als die Räubereien überhand genommen hatten, säuberten die Mecklenburger die Räuberherbergen Mesekow, Mankmuß, Cumlosen und die Burg Lenzen. Dennoch, auch der von Kaiser Karl IV. 1377 zur Unterdrückung der Raubritter eingesetzte Martin v. Wenkstern mochte daran wenig zu ändern.

Die Quitzows verhalfen Lenzen und der Prignitz durch ihre unaufhörlichen Raubzüge und kriegerischen Handlungen zu einem zweifelhaften Ruhm. 1385 überfielen sie den Domherrn Friedrich Junge von Schwerin, der auf der Burg Lenzen den Folterqualen erlag. Daraufhin erfolgte die Exkommunizierung und Verhängung des weltlichen Bannes über die Quitzows und die Stadt Lenzen. 1397 erfolgten ein Rachezug der Parchimer Bürger nach Lenzen, Verbrennung der Mühlen und andere große Schäden wegen Beraubung der Parchimer durch Leute aus Lenzen. Wegen fortgesetzter Raubüberfälle und Untaten wird Lenzen 1399 durch den Landfriedensbund erobert, Räuber werden verjagt.

1411 wurde Friedrich VI. aus dem Hause Hohenzollern mit der Herrschaft über die Mark betraut und 1415 zum Kurfürst Friedrich I. erhoben. Die Städte und Stände der Altmark und Prignitz versagten letzterem hauptsächlich auf Betreiben der Quitzows die Huldigung, die erst nach der Gefangennahme des Lenzener Burgherrn Caspar zu Putlitz im Jahre 1416 durch die Stadt Lenzen erfolgte. Für die nächsten Jahrhunderte blieb Lenzen nun mit dem Hause Hohenzollern verbunden.

Während Ruhe und Ordnung, Recht und Gesetz in die Mark einzogen, blieben die Grenzstädte und damit auch Lenzen Unruheherde. Friedrich I. „zerstörte die Orte des ruchlosen Übermuts und schamloser Willkür, trieb die Raubgesellen aus ihren Höhlen des Lasters, und schleifte die Raubschlösser Gorlosen und Wustrow“. Mit der Verpfändung von Stadt und Burg Lenzen 1426 an Hans von Quitzow blieben diese bis 1484 und nochmals 1540 bis 1570 im Besitz dieses Raubrittergeschlechtes.

1482 wurden abermals 15 Raubschlösser, worunter sich wieder Burg Lenzen befand, zerstört. Die Quitzows übertrugen den noch immer nicht erstorbenen Geist wilder Fehdelust auf die Bürger von Lenzen, die, wie es heißt, ihrem Burgherrn nur zu gern Gefolgschaft leisteten.

An interessanten Geschichtszahlen für Lenzen sind noch zu erwähnen: 1411 wird der Zoll von Schnackenburg nach Lenzen verlegt. 1420 kauft die Stadt Lenzen die Fähranlegegerechtigkeit am anderen Elbufer von der Familie von Bülow in Gartow. 1459 wird die Marienkapelle auf dem Issekenberg (Marienberg) mit Wallfahrtsort erstmals erwähnt, wo auch bis etwa 1540 der Jahrmarkt stattfand, der dann in die Stadt verlegt wurde.

Im Jahre 1482 existiert in Lenzen bereits die Schuhmachergilde. Aus diesem Jahr ist ein „Adelsbrief“ (Bescheinigung) für eine Schuhmachersfrau erhalten, dass sie „echt und recht deutsch und nicht wendisch“ geboren sei, zwecks Aufnahme als Gildeschwester. Der Hopfenanbau spielte zu jener Zeit bereits eine bedeutende Rolle. In einem Vergleich zum Erhalt der Heerstraße zwischen Lenzen und Pevestorf werden ausdrücklich die langen schweren Hopfenwagen erwähnt, wie sie die Fuhrleute von Lenzen benutzen.

1484 wird die Burg Lenzen Amtssitz. 1502 sind bereits Deichschauer in Lenzen tätig. Um 1540 und danach tauchen weitere Gilden in den Urkunden auf: Gewandschneider, Wollweber, Tuchmacher, Knochenhauer, Schmiede, Tischler; es existieren auch eine Badstube, ein Pelzerhaus, eine Ziegelscheune und eine Roßmühle. 1542 wird der erste Lehrer mit festem Gehalt eingestellt.

1564 gab es 197 Feuerstellen (= Wohnhäuser). 1566 und 1596 trat die Pest in Lenzen auf 1599 die Rote Ruhr, die, wie auch andere Seuchen die Menschen die nächsten 70 Jahre in Angst und Schrecken versetzten. 1601 wird vor dem Seetor die Windmühle neu erbaut. Ab 1612 kam es zu Unruhen und zur Aufruhr der Bürgerschaft und der Gilden gegen den Rat. Es wurden Bürgerkontrollen und die Wahl von Viertelsherren, als Sprecher auf Vorschlag der Gemeinde gefordert. Ursache des Aufruhrs waren Schoßtaxen, Urbede und andere Steuern und Amtshäufung im Rat. Naja, was die Steuern anbetrifft, haben sich die Zeiten ja kaum geändert.

Georg Grüneberg, Lenzen (MAZ vom 15./16.05.04)


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26.05.2004

3. Teil: Jahrzehntelang von Truppen ausgeplündert

Als im Jahre 1610 wegen der Thronfolge in den Herzogtümern Jülich und Cleve ein Krieg drohte, galt es, die Verteidigungsfähigkeit der Bürger in den landesherrlichen Städten festzustellen. Jeder Bürger hatte sich „wehrfähig“ zu halten und seine Bewaffnung zu stellen. Das waren Musketen, lange Röhre, Pieken, Hellebarden, Spieße, Schlachtschwerte oder Sensen. Entsprechend wurden die Musterungslisten geführt. Während zur Verteidigung der Stadt Lenzen 183 Personen bereitstanden, mussten zur Landesverteidigung, „Ausschuß“ genannt, 45 davon zur Verfügung stehen.

Die Schlusskommentare hinter den Musterungen aller Prignitzer Städte sind ähnlich. In Lenzen heißt es: „Sie Pitten aber weilen das Stetlein khlein undt auch zimlich unvermögen Ihre Churftl. Durchlaucht wollen den Ausschuß etliche Mas lindern.“ In Kyritz heißt es: „Der Rat beschweret sich, dass sie ganz arme Leuthe (seien) und auch deren Rahthauß nicht allein nichts habe, sondern auch schuldig sein (also Schulden haben).“

1618 wiegte man sich noch in Sicherheit

Als man 1618 zuerst von den Vorgängen in Böhmen und den sich anschließenden kriegerischen Auseinandersetzungen hörte, wiegte man sich in Lenzen noch in Sicherheit. Auch als 1620 englische Söldner durch die Stadt nach Böhmen zogen und dadurch ein vorübergehender Druck auf Lenzens Bürgern lastete, ahnte man noch nicht, welche Katastrophe auch Lenzen bevorstand. Als 1623 der schon seit Jahren in Süddeutschland wütende Krieg sich auch nach Norddeutschland zu verpflanzen drohte, fand wieder eine Musterung statt. Diese vermerkt auch, ob der Hausbesitzer „selbst“ antritt, oder bei Witwen und alten Leuten, wen er statt seiner Person schickt. Denn die „Perlebergische Städteordnung“ von 1639 besagt unter anderem: „Eine jede Witbe (Witwe), so ein Aufbott oder sonsten ein Gerüchte würde, soll einen tüchtigen Mann mit gutem Gewehr (und) dem Harnische vor (für) sich im Felde haben.“ Als 1625 die Pest ausbrach und binnen sechs Monaten 336 Menschen starben, machte so mancher Lenzener sein Testament, wie auch Jochim Wernicke und seine Hausfrau im Beisein des Pfarrers Falkenhagen, des Kantors Saccertus und des Balbiermeisters Hans Pentzier, der anstelle der schreibunkundigen Frau testierte. Sicher gehörten Wernickes zu den wohlhabenden Familien der Stadt, wenn sie „2 güldene armbänder, 1 güldenes Kettichen, 1 vergüldeten Becher, 1 güldene Leibborte, 1 silbernen Becher, 1 großen gülden Rink, worinnen ein demant“ neben vielen anderen Dingen nennen. Die Kostbarkeiten werden bald andere Besitzer gefunden haben.

Fremde Truppen hausten in Lenzen übel

1626 rückten die ersten Truppen in Lenzen ein; zunächst vermutlich dänische, dann mannsfeldische. Schon am 20.Mai des Jahres ging ein Schreiben des Rates an den Kurfürsten ab: „Bei der Armut der Stadt und der großen Teuerung, bei der vorm Jahr gewesenen geschwinden Pest“, bei den früheren Einquartierungen könne die Stadt solch eine Menge Menschen nicht ernähren. Es „stehen an die 40 Heuser ledig, welche außgestorben und armuhts halber verlassen“. Diese Klagen von Bürgermeister und Rat von Lenzen werden über 20 Jahre nicht verstummen. Der am 15. Mai 1626 eingerückte Kapitän Bindt forderte, die Lenzener sollten nach Havelberg zum Schanzenbau kommen. Auch in Lenzen sollten die Tore und Zugbrücken befestigt werden. Ein Viertel der Bevölkerung hatte täglich auch in Lenzen Schanzen zu graben. Der Lenzener Rat erklärte, die Lenzener hätten selbst genug zu tun, wie zum Beispiel die Reparatur der Elbdeiche, was im vorigen Jahr wegen der Pest unterblieben sei. Man forderte den Abzug der Truppen, doch weitere kamen. Am 18.Juni kam der Obrist Lanu, ein Italiener, mit seinem Regiment in die Lenzerwische gezogen und hat dort übel gehaust, wie es in einer alten Schrift heißt. „Seit jenen Tagen ist Lenzen immer aufs neue von den Kriegsvölkern ausgeplündert und beunruhigt worden“, wie die Chronik von Willy Hoppe berichtet.

Krieg, Brände und die Pest

Bald waren auch die Kaiserlichen da, und nun wechselten die Parteien ab, das von eigenen Truppen leere brandenburgische Land auszusaugen. „Der Krieg ernährt den Krieg“, galt als oberstes wirtschaftliches Gesetz. Dazwischen wütete der Brand, wie 1627 und 1630, oder nochmals die Pest 1628. Aus dem Stadtarchiv Lenzen, das sich heute als Depositum im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam Bornim befindet, sind verschiedene Kontributionslisten aus dem Jahre 1629 überliefert. Durch Mäusefraß zwar stark beschädigt, konnte die Liste vom 1.April 1629 vollständig rekonstruiert werden. Daneben sind Liquidationen, also Kostenabrechnungen für Einquartierungen, aus dem Jahre 1635 für Havelberg, Kyritz, Lenzen, Perleberg und Pritzwalk erhalten. Sie verzeichnen meistens die Namen der Quartiergeber und Quartiernehmer, die Kosten für „speisungk und Futter“ und „was einer und der Ander seinem Wirthe bei dem Auffbruch schuldigk geblieben“. Neben Essen und Trinken, Hafer, Malz und Bier, werden auch erpresstes Geld und Schuhreparaturen in Anschlag gebracht. Jochim Bendikens Witwe in Lenzen berechnet: „1 Thlr 12 g vor die Fenster, die Er entzwey geschlagen“, Berend Soltenin erhält unter anderem: „2 Thlr noch vor bier, freytags hernach mit einem tische voll Reutern (Reiter) in tagk und nacht ausgesoffen, 12 g vor Lichte (Kerzen), der Er 27 und 40 auf einmal angebrandt, 2 Thlr. Arztlohn den Balbierer vor den verwundeten Finger.“ Zander Kluges Witwe erhält unter anderem: „3 Thlr. vor einen gudten Schiffertisch, der er muhtwilliger Weise entzwey geschlagen und er ist nicht willig gewesen, keine nacht vor mitternacht zu bette gegangen“.

Als die Schweden die Stadt besetzten

1632 bis 1635 war Lenzen eine Ruhezeit beschieden. Der Schwedenkönig Gustav Adolf war in der Schlacht bei Lützen im Jahre 1632 gefallen und Wallenstein 1634 ermordet worden. Die ehemals geordneten Heere beginnen zu verwahrlosen. Kaum aber hatte sich Brandenburg, das bislang mit dem Schwedenkönig gegen die kaiserlichen Truppen gestanden hatte, mit dem Prager Frieden auf die Seite der kaiserlichen Partei gestellt, da betrachtete der Schwede, der schon vorher keineswegs milde verfahren war, die Mark als Feindesland. 1636 wird Bäckern von kaiserlich-sächsischen Truppen „gar weggebrochen und desolat gemachet“. 1638 ist Lenzen von den Schweden besetzt. An einem nebligen Tage im Oktober tauchen plötzlich auf dem Höhbeck 200 Kaiserliche auf. Der schwedische General Banér zieht sich vor der Übermacht nach Dömitz zurück, worauf die Sachsen auf einer Schiffsbrücke die Elbe überschreiten und Lenzen mit Truppen belegen. Ein paar Tage später werden die Sachsen von den Schweden vor Dömitz schmachvoll geschlagen, die Schweden sind wieder in Lenzen. Die abziehenden und einrückenden Truppen nehmen alles, was ihnen in die Hände fällt. Acht Tage lang plündern die kaiserlich-sächsischen Soldaten 1636 unsere Stadt. 1638 sterben erneut 400 Lenzener an der Pest. Am 5.Oktober kommen Schweden und treiben das gesamte Vieh von der großen Wiese. Einige Lenzener unter Führung des Kantors Lamprecht setzen ihnen nach, doch auf der Jakel werden sie von Reitern umringt und sieben von ihnen getötet, darunter auch der Kantor Lamprecht. Am darauf folgenden Tag wurden das Seetor von den Schweden gesprengt und die Stadt verwüstet.


Ungeheuerliche Gräueltaten

Eine im Original erhaltene Klageschrift (Gravamina) verdeutlicht das Ausmaß der Gräueltaten gegen die Lenzener Bevölkerung: „Gravamina des armen und anietzo (jetzt) gantz verwüsteten Städtleins Lentzen vom Januar 1641.“ Hier ein Auszug: „Zu diesem 1638ten Jahr ist die gantze keyserl. und chursächsiche Armee (in) diese Örter gerückt, (hat) hier und in der Lenzischen Wische logirt, neben dies Städtlein eine Schiffbrücke geleget, wozu die Bretter, Thüren und andere Gerätschaft aus unseren Heußern genommen, die also ruiniret und zugerichtet, das noch zur Zeit deren keins recht gebraucht werden kan, noch fertig ist. Dabey ists nicht (ge)blieben, besonderen da alles verheeret und verzehrt gewesen, ist abermal ein Feuer auskommen, in welchem in die 53 Wohnheuser eingeäschert (worden sind). Und waß die arme(n) Leute noch außm Feuer errettet, daß haben die Soldaten ihnen mit Gewalt wieder abgenommen, und die Leute soweit (ge)bracht, daß ihrer viele Hungers sterben und haben schmehelich umbkommen müssen. Wie diese Armee aufgebrochen und über die Elbe gegangen (ist) in die Alte Marck, hat uns eine Schwedische Partey von Wasserpohlen und anderen Völckern überfallen, alles geraubet und geplündert (und ist) mit den Bürgern, Weibern und Kindern dermaßen grausam umbgegangen, das derogleichen vom Türcken nicht gehöret worden. Dan über andere vielfältige unmenschliche Marter und Pein, so den Leuten angethan, haben sie unseren ehrlichen Bürger, Hans Betke genant, an einen höltzernen Spieß gebunden, denselben von 7 Uhren frühe bis aufn Abend umb 4 Uhr am Feuer gebraten, das er mit großem Jammergeschrey und Schmertzen den Geist aufgegeben (hat) und (hat des) Todes sein müßen. Einen alten Man und Bäcker haben sie die Waden aufgeschnitten, wie auch einer alten Matron die Beine in heißsiedend Wasser gesetzt und also verbrand, das sie des Todes sein müssen. Ettliche Kinder haben sie nackend außgezogen, Stricke umb den Halß gemachet, sie damit in die Höhe gezogen, mit Spitzruten bis aufs Blut geschlagen, das sie des Todes (haben) sein müßen. Theils Leute haben sie in der grimmigen Kälte inß Waßer gesteckt und erfrieren laßen, theils mit den naßen Haaren aufs Eiß niedergeworffen und solange gehalten, bis sie mit den Köpfen und Haaren eingefroren (waren), und da sie loßgewolt, die Haare im Eise steckenlaßen und (sind) des Todes worden. Das also in die 50 Menschen alt und jung, groß undt klein jämmerlich hingerichtet und zu Tode gemartert worden. Und in Summa: Es ist an diesem Orte und an unseren armen Leuten eine solche große und zuvor nie erhörte Tyranney verübet (worden), derogleichen zuvor nie erhört worden und keinem ein(z)igen Orte wiederfahren (ist). Es haben über daß diese Völcker alle Bratpfannen, Keßel und Grapen, so aus dem Feuer gerettet worden (sind), mit hinweggenommen, nach Lübeck und andere Örter geführt und verkaufft, und also daß gaarauß mit uns gemacht ist, das wir davonziehen und daß verwüstete Städtlein ledig stehen laßen müßen.“

Bevölkerungszahl sank drastisch

50 Menschen waren zu Tode gemartert. Waren 1638 noch 77 Geburten in Lenzen zu verzeichnen, waren es 1639 noch fünf. Die Bevölkerungszahl sank auf etwa zehn Prozent. Die meisten Bewohner sind geflohen, zum Teil nach Salzwedel, wo sie den Winter über blieben, teils ließen sie sich auf den Elbwerdern oder in der Mitte der Kuhblank nieder, jenem großen Eichenwalde an der Elbe, und fristeten dort in Erdhöhlen ihr erbärmliches Dasein. Eichelbrot war ihre Speise. Ab 1640 nimmt die Bevölkerungszahl wieder zu, wenngleich die Leiden erst nach 1644 langsam abnahmen. Noch 1642 haben 300 bis 400 Reiter die Lenzerwische „totaliter ruiniret“ und Mödlich ausgeplündert, sodass „Adel und Unadel davon gehen und das ihrige von außen ansehen müssen“. Im Jahre 1654 sind 57 Prozent der Häuser in Lenzen wieder bewohnt. Davon sind 51 Prozent alteingesessene Familien und 49 Prozent neu hinzugezogen. Es wird mehr als einhundert Jahre dauern, bis die alten Einwohnerzahlen wieder erreicht werden.

Georg Grüneberg, Lenzen (MAZ vom 22./23.05.04)


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09.06.2004

4. Teil: Große Feuersnot und viel Leid durch Hochwasser

„An Feuersbrünsten ist die Stadt eine von den unglückseligsten unter allen märkischen Städten, indem sie nicht allein 1558 ganz eingeäschert worden, sondern ist auch nachhero von 1627 bis 1703 binnen 76 Jahren achtmahl in großer Feuersnoht gewesen", schreibt eine alte Lenzener Chronik.

Brandstiftung und leichtsinniger Umgang mit Feuer in den eng aneinander gebauten Häusern mit Strohdächern begünstigen die Katastrophen. Da auch die Scheunen innerhalb der Stadt lagen, verloren die Bewohner neben allem Hab und Gut auch das für das kommende Jahr benötigte Saatgut. Schon um 1650 sind deshalb drei Scheunenviertel vor den Toren der Stadt entstanden.

Aus Rache am Meister Feuer gelegt 

Am 8. September 1558 soll ein Goldschmiedelehrling das Feuer aus Rache gegen seinen Meister gelegt haben. Noch im Jahre 1900 wurde dieser Schreckenstag jährlich mit dem sogenannten Brandfest kirchlich gefeiert. Bei dem Brand von 1558 sind leider auch die ältesten Dokumente der Stadt „gäntzlich zerstöret undt zu Asche geworden“. 1630 war das Unheil durch den unvorsichtigen Umgang mit einer Stalllaterne entstanden.

Vom 8. bis 10. Dezember 1703 hat ein gewaltiger Orkan in Lenzen so heftig gewütet, dass die meisten Häuser dachlos dastanden und vor Trümmern die Straßen kaum passiert werden konnten.

Zu diesem Schaden kam am nächsten Tag der noch viel verhängnisvollere große Stadtbrand, verursacht durch eine Magd, „so mit blossem lichte das vieh zu futtern zur Scheune soll gesand sein".

Feuerwehrleute löschten erst ihren Durst

Dem Erzählen nach, sollen die aus Eldenburg herbeigeeilten Feuerwehrmänner es vorgezogen haben, nicht das Rathaus, sondern im Ratskeller ihren Durst zu löschen. Für den Wiederaufbau der Stadt bewilligte damals der preußische König Friedrich I. 1704 eine landesweite Kollekte.

Von weiteren Orkanen wird 1734, 1828, 1847 und 1894 berichtet, bei letzterem sollen 4000 Baumstämme gefallen sein. Am 23. Juni 1740 wurde die Feldmark in weitem Umkreis vom Hagelschauer verwüstet. Die hühnereigroßen Hagelkörner sollen Gänse erschlagen haben und die Kühe bluteten.

1738 und 1802 vernichteten Großbrände je 26 Scheunen vor dem Berliner Tor, 1842 45 Scheunen vor dem Hamburger Tor und 1871 wurden 31 Scheunen vor dem Seetor ein Raub der Flammen. 1873 brannten alle Wohnhäuser des Körbitz nieder.

Rauchverbot bei Zuchthausstrafe

Schon im 17. Jahrhundert war es deshalb Vorschrift, bei der Annahme zum Bürger einen Ledereimer zur Brandbekämpfung zu besitzen. 1716 definiert die älteste bekannte Feuerordnung der Stadt eine Reihe von Brandschutzmaßnahmen.

Die Strohdächer sollten abgeschafft werden, wozu es 1732 eine staatlichen Förderung in Höhe von 23 Prozent gab. Das „Tobackrauchen“ auf Heu- und Strohböden war bei „Zuchthausstrafe mit Willkommen und Abschied“ - was Prügel bei Antritt und Abschied bedeutete, verboten. Die Nachtwächter hatten im Winter im Vorbeigehen die Pumpen zu ziehen, damit sie nicht einfrieren. Das Fett zum Einschmieren der Schläuche war mit Tran zu vermischen, „damit die Ratzen solche nicht benagen und Löcher darin fressen“. Schließlich ist „das unnütze Gesindel, so bey dem Löschen keine Hand anleget, sondern nur um zuzuschauen oder zu stehlen sich bey dem Feuer befindet“ von der Feuerwache an die Pumpen und Brunnen zu bringen, um die Eimer zu füllen.

Lenzen musste seit jeher viel durch Hochwasser leiden. Die an der Stadtgrenze verlaufende Löcknitz, die vor der Verlegung ihrer Mündung im Jahre 1969/70 erst nach 15 Kilometer bei Schwarzwasser vor Dömitz in die Elbe mündete, und die Nahe Elbe brachten der Stadt so manche Katastrophe. Aber auch die Dörfer Mödlich, die Lenzerwische, Seedorf, Breetz, Cumlosen oder Lütkenwisch waren stets betroffen.

Der 1328 als „Nedderwisch“ bezeichnete Ort wurde im 16. Jahrhundert bei einem Deichbruch vollständig zerstört. Auf dem Gebiet entstanden die neuen Orte Besandten (durch Flusssand besandet) und Unbesandten, die 1652 erstmals unter dieser Bezeichnung erscheinen.

Das älteste belegte große Hochwasser war im Jahre 1595. Schier unendlich erscheint die Liste der Jahre mit Deichbrüchen und Hochwasser. Zwischen 1651 und 1700 waren es neun sowie 14 in den folgenden 100 Jahren, weitere 20 bis zum Jahre 1900 und nochmals neun bis zum Jahre 2000. Meistens sind es die Monate Februar bis April, in denen, oft auch durch Eisgang verursacht, die größten Schäden entstanden.

Mit Deichordnungen wurde versucht, Schäden zu verhüten. Die älteste stammt aus dem Jahre 1476, weitere folgten, so 1517 unter Kurfürst Joachim I. Mehrmals jährlich wurden Deichschauen durchgeführt.

Die Deichkommission traf sich in Cumlosen und war verantwortlich bis zum Gaarzer See. Nach dem späteren Buhnenkataster von 1737 waren die Prignitzer Deiche in drei Distrikte geteilt: Quitzöbel - Wittenberge, Wittenberge - Lenzen und von Lenzen bis zur mecklenburgischen Landesgrenze.

Aus Bosheit den Deich durchstoßen

Doch trotz aller Deichbefestigungen ist Lenzen und seine Umgebung durch Deichbrüche an der Elbe, mehr aber noch durch Überschwemmungen der Löcknitz, die bei hohem Elbwasserstand die ganze Niederung mit Rückstauwasser überflutete, gewaltiger Schaden entstanden.

Aus der Fülle der Informationen seien nur einige herausgegriffen: 1651 überschwemmte durch einen Deichbruch die Lenzerwische und Lenzen, weil ein Kuhhirte vom Gut Kietz den Deich aus Bosheit durchstochen hatte. 1709 heißt es, dass 15 Tage lang alle Bürger auf den Deichen waren, um diese zu retten. Dies erinnert doch sehr an das Jahr 2002. Am 3. März 1761 wurden in Lenzen etliche Häuser am Seetor weggespült.

Im März 1771 ist das ganze Gebiet von Wustrow bis Gaarz eine riesige Wasserfläche. Die Leichen mit den Trauerzügen fuhren per Kahn nach Wittenberge und anderen höher gelegenen Orten, weil kein Land zur Bestattung hier vorhanden war. Mehr als die Hälfte der Kühe krepierte vor Hunger. „Lebensmittel konnten kaum für Geld beschafft werden. Hier muss jedermann den Bettelstab ergreifen und allenthalben umhergehen, sich des Hungers zu erwehren“, schrieb damals der Pfarrer der Lenzerwische ins Kirchenbuch.

Das Sterberegister der Lenzerwische berichtet am 24. September 1805, dass Joachim Friedrich Geister durch einen Sturz vom Hausbalken gestorben sei, auf dem er seit dem Frühjahr (immerhin sechs Monate!) wegen des großen Hochwassers geschlafen hatte.
Beim Hochwasser 1827 kam es zum Diebstahl von „Verteidigungsmaterial“, worauf der Deichinspektor Arndt anordnete, dass sofort scharf zu schießen sei.

Am 20. März 1855 konnte Mödlich vor einer Hochwasserkatastrophe gerettet werden. Viele Jahre war dies in Mödlich ein Feiertag, an dem schulfrei war und in Dankbarkeit an die Rettung des Dorfes ein „Wassergottesdienst“ gehalten wurde.

Schnee und Treibeis stauten die Elbe

Das in der Erinnerung der hiesigen Menschen furchtbarste Hochwasser traf die Region im März 1888. Schon seit Februar kam es zu Eisverstopfungen der Elbe bei Lauenburg, als am 18. März plötzlich ein gewaltiges Hochwasser eintrat. Gleichzeitig begann ein starkes Schneetreiben, das mit wenigen Unterbrechungen vier Tage anhielt. Die ungeheuren Schneemassen hemmten den Lauf der Elbe noch mehr. Auch in Dömitz setzte sich das Treibeis fest. Mit elementarer Gewalt staute sofort das Wasser der Löcknitz zurück und setzte am 20. März Breetz, Seedorf und Lenzen unter Wasser. Die Eisenbahnbrücke an der Flut wurde weggerissen. Deichbrüche waren unabwendbar und noch am gleichen Tage brach der Deich zwischen Kietz und Baarz an vier Stellen. Zwei weitere folgten in den nächsten beiden Tagen.

Sturmgepeitschte Wassermassen

Die Chroniken berichten: „Soweit das Auge blickte - nichts als eine graue, schlackige, sturmgepeitschte Wassermasse, aus welcher nur vereinzelt noch etliche Bäume und Dachfirste hervorragten. Auch in Lenzen schwoll das Wasser immer höher, nur die Mitte der Stadt war noch wasserfrei“. In ihr drängte sich die ganze Bevölkerung zusammen.

In dreitägiger Rettungsaktion, an der auch ein Gardepionierbataillon aus Berlin und Pioniere aus Magdeburg beteiligt waren, konnten 900 Menschen gerettet und ich Sicherheit gebracht werden. Durch Sprengungsarbeiten am 25. März bei Lauenburg ging die Flut in sechs Tagen um zwei Meter zurück.

200 Gebäude hatten in Lenzen unter Wasser gestanden, der Gesamtschaden bezifferte sich auf 94353 Mark. Am 3. Mai besuchte die Kaiserin mit dem Dampfer die geschädigten Gebiete, und dabei auch Lenzen. Durch staatliche Beihilfen und Spenden konnten damals alle Schäden in voller Höhe ersetzt werden.

Georg Grüneberg, Lenzen (MAZ vom 19./30.05.04)

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21.06.2004

5. Teil: Anfeindungen und Widerstand waren groß

Arnold Gijsels van Lier wurde im Jahre 1593 (nicht 1580, wie irrtümlich angenommen) zu Iselsteyn in der Provinz Utrecht geboren. Um sein Leben und Wirken richtig darzustellen und zu verstehen, muss vorausgeschickt werden, dass er bereits mit 16 Jahren in Diensten der Ostindischen Kompanie stand und die Meere befuhr. Schon 1618, also mit 25 Jahren, ist er Oberkaufmann und Befehlshaber zu Amboina auf den Molukken.

Im Jahre 1641 befehligte er eine zur Unterstützung der Portugiesen ausgesandte holländische Flotte und behauptete sich in der Seeschlacht bei Kap St. Vincent am 5. November gegen die spanische Übermacht, wofür er in den Adelsstand erhoben wurde.

Ungeachtet seiner Verdienste wird dem Admiral nach der Rückkehr in seine Heimat die gebührende Anerkennung vorenthalten. Der Gijsels-Forscher Christoph Voigt schreibt: "Die Gründe entziehen sich unserer Kenntnis."

Der Prinz Friedrich Heinrich von Oranien verweist Gijsels an seinen Schwiegersohn, den Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Dem Großen Kurfürsten erschien dieser in Kolonialfragen erfahrene Mann die geeignete Person zu sein, seinen eigenen Kolonialplänen als Berater zum Erfolg zu verhelfen. Doch es kam zu keiner Kompaniegründung, "denn die Nachwehen des furchtbaren Dreißigjährigen Krieges hallen noch zu sehr in den Gemütern nach, als daß die ängstliche Kaufmannschaft von Königsberg sich zu so weit ausschauenden Unternehmungen hätte aufschwingen können".

Der Admiral tritt in die Dienste des Kurfürsten, und 1651 wird ihm als Geheimer Rat das Amt Lenzen in Erbpacht zuerkannt. Mit seiner Tochter — er selbst ist Witwer — bezieht er die Burg Lenzen.

Als nützliche Quelle für Gijsels Wirken dient eine im Lenzener Pfarrarchiv befindliche Akte Gijsels aus den Jahren 1651 bis 1655, in der Protokolle und Briefabschriften enthalten sind, aus denen im folgenden zitiert wird. Nach dem Dreißigjährigen Kriege lag auch in Lenzen vieles im Argen, und Gijsels glaubte, mit fester Hand durchgreifen und Zucht und Ordnung wieder herstellen zu müssen.

Unter dem Datum vom 22. Oktober 1653 stellt Gijsels van Lier dem Kurfürsten ein Programm von 16 Punkten vor. Wie fast immer in seinen Briefen vergisst er nicht die Bemerkung, dass der Kurfürst ihn gegebenenfalls belehren und berichtigen möge.

Im 8. heißt es, dass alle durch Feuer vernichteten Häuser der Stadt wieder aufgebaut werden sollen, zumal sich die Einwohner damit begnügt hätten, Schuppen und armselige Notunterkünfte aus den verkohlen Balken und Brettern aufzurichten und darin recht und schlecht zu hausen. Jeder baute dorthin, wo er wollte, so dass alles wirr durcheinander stand.

Mit ordnender Hand griff Gijsels ein und verfügte: "Der Rat der Stadt hat ohn Beschwerd jemand zu deputieren, der die Aufsicht über den Häuserbau führet und bei dem sich jeder, so bauen will, anmelden möchte, damit die Häuser nicht so schändlich, wie an etzlichen Orten dieses Städtleins geschehen, hinfüro gebauet werden. Eines Städtleins bester Zierrat ist, wenn die Häuser fein gleichförmig und proportionaliter stehen. Zum Spott der fremden Leute und zum eigenen Nachteil liegt der Mist ellenhoch auf den Gassen, ja so hoch, daß kein Mensch zum andern kommen kann."

Gijsels gab darum dem Rat der Stadt die Anordnung: "Der Straßenmist ist von den Bürgern, soweit sich eines jeden Logement erstrecket, entweder zusammenzuschuffeln oder, weil er dem Ackerbaue sehr dienlich, auf den Acker zu fahren, und kann ich mich nicht genug wundern, weil der Acker dieses Ortes des Mistes so bedürftig ist."

Der Teufel Alkohol war schon immer ein Kapitel, mit dem sich die Lenzener Obrigkeit herumzuschlagen hatte. Unter Punkt 12 führt Gijsels auf: "Nachdem auch der Sonntag, da er sollte gefeiert und geheiliget werden, zum überflüssigen Saufen und Schwelgen, insonderheit unter (vor) der Predigt, von vielen geschändet wird und oft große Ungelegenheit und Schlägerei entsteht, wie das eine Bürgerinne neulich am Sonntag, nachdem ihr zwei Wunden in den Kopf geschlagen, mit Schaden erfahren hat; also wollte ich hiermit erkundigt haben, ob es nicht ratsam, daß denjenigen, welche Bier oder Branntewein ausschenken, durch ein angeheftetes Mandat befohlen werde, daß sie niemand, es sei denn zur Notdurft, etwas vor geendigter Predigt verabfolget oder schenken sollten."

Wie es mit der Justiz aussah, schildert der Amtmann dem Kurfürsten wie folgt: "Es befindet sich, daß niemand der Amtsuntertanen, er sei Schulze oder Richter, weder lesen noch schreiben kann. Und obschon es in allen Ämtern dieses Ortes so zugehet, daß nach Phantasie gerichtet werde, so möchte ich unterthänigst bitten, neben dem Amtsschreiber ein paar qualifizierte Personen wählen zu können, die als Zeugen allen vorfallenden Actibus beiwohnen, damit mir niemand Böses nachreden oder sagen möge, daß ich die Leute nach meiner eigenen Phantasie richte. Möchte daher zur Rechtfertigung meines Gewissens, daß alles, was gehandelt wird, schriftlich notiert werde, damit ich es gegen Euer Kurfürstlichen Durchlaucht und jedmänniglich verantworten kann."

Das Schulwesen der Stadt Lenzen kann für damalige Verhältnisse als sehr gut angesehen werden. Anders war es auf dem Lande, und so fordert Gijsels Folgendes: "Weil ich gern sehen und befördern möchte, daß in jedem und insonderheit den großen Amtsdörfern Schule gehalten würde und aus jedem Hause ein Kind, insonderheit im Winter, wenn sie so groß nicht benötigt, dahingeschicket werden, erbitte ich von Eurer Kurfürstlichen Durchlaucht einen expressen Befehl, damit die Leute dasjenige um desto williger tun, zumal doch Einfältige sich einbilden, als wenn ich damit eine Neuerung machen wollte."

Von besonderer Wichtigkeit war für Gijsels die Instandsetzung der verwahrlosten, maroden Deiche, um deren Erhaltung sich seit Jahrzehnten niemand gekümmert hatte. Daher lehnte es der Adel, besonders Max von Möllendorff, ab, seine "bösen Deiche" instandzusetzen. Anderthalb Jahre später wurde gerade jener Deich bei einem Eisgang hinweggerissen. Gijsels bittet den Kurfürsten, dem Landreiter zu befehlen "ohne Verlust eines Tages die Execution" gegen Möllendorff zu vollstrecken und von dem Geld die Deiche instandsetzen zu lassen. Weiter sei für diesen Zweck auch der Anteil Möllendorffs am Elbzoll einzubehalten.

Gijsels wurde durch den Kurfürsten bei Amtsantritt zugesichert, ihn männiglich bei seiner Amtsführung zu schützen. Doch die Widersetzlichkeit der Ratsherren ging soweit, dass diese sich weigerten, vor einem "Commißarius" des Kurfürsten zu erscheinen.

Viele Beschwerden und schwere Anklagen der Bürger wegen Vetternwirtschaft des Bürgermeisters Krause und seiner drei zu Ratsherren ernannten Schwiegersöhne waren der Vorladungsgrund. Doch der Kommissar konnte ihnen nicht helfen, sie "sind also mit Tränenvergießung davongegangen".


Ein weiterer Beschwerdepunkt war die Rechtlosigkeit der Bevölkerung dem Rat der Stadt gegenüber. Wer sich irgendwie beklagte, wurde in die "schlimbste gefengnüße geworffen. So woh er auch keiner aussicht auff Fleisch, Bier und Brot Kauff hat".

Nach dreijähriger Tätigkeit in Lenzen klagte Gijsels beim Kurfürsten: "Ich danke für die mir gethanen freudenreichen Neujahrswünsche, die mir wohl dienlich wären, zumal ich die Zeit meines Lebens so hinterlistig nicht nachgestellt worden bin als diese drei Jahre anhiero." Elias Stryke, Gijsels Vorgänger im Amt, und der Vertreter des kurfürstlichen Hofes, ein gewisser Diekmann, steckten unter einer Decke und halfen sich gegenseitig, der eine mit zollfreier Ausfuhr für Diekmann, der andere dadurch, daß er Gijsels bei Hof schlecht zu machen versuchte. Gijsels schreibt: "Tagelang hat er inständig angehalten, ich möchte dies Amt abgeben und es an Zöllner Stryke transportieren und mit ihm einen Vertrag schließen, widrigenfalls würde er mir in Berlin einige Affronten wiederfahren lassen.— Wenn Diekmann saget, ich könne mit dem Amt nicht zurechtkommen und verstünde mich auf keine Regierung, so nur, weil ich den armen Leuten nicht die Wolle vom Rücken schere." Diekmann bot Gijsels sogar an, ihm eine "Baroney" zu kaufen, wenn er das Amt abgebe. Da einige Höflinge behaupten, dass Gijsels nur nach Lenzen gekommen sei, weil er anderswo keine Nahrung finden könnte, führt er auf, wo er überall eine gute Stellung hätte haben können. So war der Botschafter von Holland bei ihm, um ihn wieder in die Niederlande zu holen. Auch Angebote aus Frankreich lagen vor, und der dänische König, auf dessen Schiffen vier seiner Kapitäne Dienst taten, wollte ihn als Befehlshaber seiner Flotte einstellen. Dem dänischen Reichshofmeister antwortete Gijsels: "Ich bin nicht mein eigen Meister, sondern in Eid und Pflicht seiner Kurfürstlichen Durchlaucht."


Bei seinen Dienstreisen nach Münster, Brüssel, Friesland und anderen Orten, schreibt Gijsels, habe er weder "einen Groschen noch eine Postfuhre genossen", sondern alles aus eigener Tasche bezahlt.

Um das städtische Wirtschaftsleben zu fördern, empfahl Gijsels die Einführung der Handweberei und brachte einen Lakenfärber aus Holland mit, der allen, die willens seien, dieses Gewerk kostenlos lehren wollte. Weil die Stadt aber den Stadtgraben nicht räumte, und damit das notwendige fließend Wasser fehlte, kam es dazu nicht.

Ferner hat Gijsels einen Werkmeister aus Holland kommen lassen, um eine Buhne in der Elbe zu bauen. Weil aber niemand diesen dabei unterstützen wollte, sei er wieder abgezogen.

Die in vielen historischen Quellen genannte und dadurch in den Köpfen der Wischebauern festsitzende These der Besiedlung Lenzens und der Lenzerwische mit holländischen Kolonisten durch Gijsels entbehrt jeder Grundlage. Gijsels schreibt dazu: "Was angehet, weitere niederländische Familien nach hier zu beschaffen, sind mir leider alle Mittel benommen, da ich ohnehin nicht wüßte, wo ich die Leute mit Wohnungen accomodieren soll, zumal nicht eine Stelle in der Stadt zu kaufen ist." Dem aufgeklärten Geist Gijsels ist es zu verdanken, dass Lenzen einen günstigen Start in eine neue Zeit des Aufschwungs schaffte.

Verständlicherweise wollte Gijsels nicht in Lenzen beerdigt werden, sondern "unter seinen Bauern" in Mödlich, deren Sprache ihn so sehr an seine niederländische Heimat erinnerte und wo er sich an der Kirche ein "Leichenhäusgen" hatte errichten lassen. Gijsels van Lier starb am 8. Dezember 1676 und wurde, so wie später seine Tochter, dort bestattet. Die beiden Körper blieben, obwohl nicht balsamiert, lange als Mumien erhalten. Beim großen Hochwasser 1888 hatten die Särge lange im Wasser geschwommen und der Zustand der Mumien verschlechterte sich. So fand nach einem feierlichen Gottesdienst in der Mödlicher Kirche am 12. Dezember 1912, 236 Jahre nach dem Tod, eine erneute würdige Beisetzung statt. Seit 1913 erhebt sich ein Granitblock über dem Grabe mit der Inschrift Arnold Gysels van Lyr - 1580 - 1676 (richtig müsste es 1593 - 1676 heißen).

Georg Grüneberg, Lenzen (MAZ vom 19./20.06.04)

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28.06.2004

6. Teil: Pestilenz und Scheiterhaufen

Nicht nur Hochwasser und Feuersbrünste brachten Unheil über Lenzen, sondern auch diverse furchtbare Epidemien. Das enge Zusammenwohnen in den überaus schmalen Straßen und Gassen, die muffigen, durch Fenster nur spärlich erhellten Zimmer und auch die Gleichgültigkeit gegen die einfachsten sanitären Maßnahmen bewirkten, dass Epidemien, wenn sie einmal auftauchten, oft viele Monate, manchmal sogar Jahrzehnte wüteten.

Im Jahre 1529 herrschte in Lenzen der "englische Schweiß", eine der Cholera ähnliche Krankheit, der viele unter grässlichen Schmerzen erlagen. Dann brach die Pest, "der schwarze Tod", diese furchtbare Geißel des Mittelalters auch über Lenzen herein und herrschte, von kleinen Unterbrechungen abgesehen, über 100 Jahre. Eine entsetzliche Pestepidemie brach im Jahre 1566 aus, die Zahl der Opfer betrug viele Hundert; 1596 erlagen der Seuche mehr als 500 Personen. Die Pest zog von Haus zu Haus. Folgende Zeilen schildern die Situation:

"Neun Kinder spielten im ersten Haus - neun kleine Särge trug man heraus.

Um den Amboss vier Gesellen sich reihn, am nächsten Tag ist der Schmied allein.

Und wer ihn suchte am Morgen darauf, dem tat keine Hand mehr die Türe auf.

Zwei Knäblein zerren mühsam und schwer, den Sarg des Vaters im Karren daher,

den leeren Wagen bringt einer nach Haus und geht gleich selbst zum Kirchhof hinaus."

1599 wurden viele Einwohner der Stadt von der "roten Ruhr" ergriffen. 1625 raffte die Pest vom Juni bis zum Winter abermals 336 Menschen dahin, desgleichen 168 im Jahre 1628. Zehn Jahre später sollen nochmals 400 Einwohner an Pest gestorben sein. 1713 zeigte sich eine bis dahin unbekannte Krankheit, die man "Kriebel-Kröppel" nannte. Krampfhaft zogen sich Zehen, Hände und Finger der von dieser Seuche Befallenen zusammen und unter grässlichen Schmerzen und hohem Fieber fielen sie dann in epileptische Krämpfe, die zum Wahnsinn und zum Tode führten. Im 18. Jahrhundert berichten die Kirchenbücher mehrfach von Pockenepidemien, an der unzählige Kinder starben.

Zur Hexe gestempelt und verbrannt

Zu den erschütternden Geschehnissen des Mittelalters wie Kriege, Seuchen, und die kirchlich gesteuerte Massenvernichtung der Ketzerinquisitionen kam um 1500 ein weiteres schreckliches und nachhaltig wirkendes Langzeitereignis hinzu: die Hexenverfolgung. Kirchlicherseits wurde im Spätmittelalter eine Hexenlehre entwickelt, die die Grundlage für die Massenvernichtung der als Hexe Verurteilten bildete. So vollzog sich allmählich im gesellschaftlichen Bewusstsein, dass Zauberei- und Hexenwesen prinzipielle Verbrechen seien, die nur durch physische Ausrottung der Betroffenen bekämpft werden könne.

Dieses von der gesamten Gesellschaft getragene Phänomen sorgte fast zweihundert Jahre lang dafür, dass das Leben von tausenden und abertausenden Menschen, vorwiegend Frauen, auf dem Scheiterhaufen endete, wenn nicht schon zuvor an den Folgen unvorstellbarer Tortur.

Ging es einem Nachbarn besonders gut, so musste er mit dem Teufel im Bunde stehen; ging es dem anderen aber besonders schlecht, war er "verhext" worden. Für alle Dinge, die ungewöhnlich erschienen, fand man die Ursachen. Vor allem Naturkatastrophen, wie Überschwemmungen, Dürre, Seuchen unter dem Vieh und dergleichen schrieb man dem bösen Blick, der Zauberei und den Hexen zu. Aber auch Erfolge in der Heilkunst, die auf gute Kenntnisse der natürlichen Kräuter beruhten, wurden für Zauberei gehalten. Der Wahnsinn dieser Zeit trieb die tollsten Blüten, wie ein Helmstedter Prozess zeigte, bei dem der "Hexe" nachgesagt wurde, sie habe in der Walpurgisnacht mit dem Teufel auf dem Blocksberg gebuhlt und eine Maus geboren. Ähnlich Absurdes ist aus Lenzen und Ferbitz überliefert. Welche Martern wurden wohl damals angewandt, um die Angeklagten zu Geständnissen zu zwingen?

 

Was man sich in dieser Zeit erlauben konnte, zeigt in krasser Weise ein Fall aus dem Gericht Mödlich. Eine Frau namens Plonia Brahns kam zu Gijsels van Lier und beschwerte sich, dass ihr Schwiegersohn sie der Hexerei beschuldige, weil er sie nicht leiden mochte. Zur Unterstützung hatte von Lier sich der Aussage des Dorfschulzen vergewissert. Er ließ darauf von der Kanzel verkünden, dass alle, die etwas gegen Plonia Brahns vorzutragen hätten, sich auf dem Lenzener Amt melden sollten. Aber es kam niemand. Statt dessen trafen sich die Kläger im Dorfkrug zu Mödlich und stellten mit dem dortigen Prediger eine Anklageschrift auf. Diese Zusammenkunft bewirkte, dass Plonia Brahns erneut zum Amtmann ging und - nachdem sie bitterlich geweint und ihr Leid geklagt hatte - sagte: "Viele Hunde sind des Hasen Tod." Gijsels van Lier bemerkte treffend: "Wenn der Hirte irret, irren die Schafe" und geriet mit dem Mödlicher Prediger in ernste Auseinandersetzung und beantragte beim Kurfürsten dessen Entlassung. Zum Schutz der Plonia Brahns ließ er verkünden, dass alle diejenigen, die sie der Hexerei beschuldigen, 50 Taler Strafe zu zahlen hätten. Den Kindern gab er die Anweisung, sie wieder in den Kreis der Familie aufzunehmen.

Wie schmerzlich muss es aber Gijsels empfunden haben, dass dennoch 1665/66 fünf Frauen als Hexen vor dem Berliner Tor in Lenzen verbrannt wurden? Die Namen der Unglücklichen, die meist unter furchtbaren Schmerzen gefoltert wurden und in Todesangst Geständnisse ablegten von Taten, die sie nie begangen hatten, sind im Kirchenbuch verzeichnet mit der Anmerkung "Saga ad rogum condemnata et combusta" (als Hexe auf dem Scheiterhaufen verurteilt und verbrannt).

Blutgericht bei den Kohlhöfen

Zuständig für die Vollstreckung von Todesurteilen, Leibesstrafen und der Folter war der Scharfrichter. Überliefert ist, dass es schon 1587 eine Scharfrichterei in Lenzen gab. Damals beschwert sich der Amtmann von Bardeleben über den Scharfrichter. Er "feret auffn Kutzschen wie ein Edelmann", verachte die Gerichte und halte es nicht für nötig, den Hut zu ziehen, er betreibe Prunk und "hat sein eigen und seines Knechts Schwerter stattlich mit Silber beschlagen".

Viele Delikte von Verurteilten verzeichnet das Lenzener Sterberegister. So wurde 1684 der Mörder eines Postillions viermal mit glühenden Zangen gezwickt und dann gerädert, 1689 ein Dieb gehängt und 1745 eine Kindesmörderin enthauptet. Die Exekutionen waren wegen der beabsichtigten erzieherischen Wirkung öffentlich, arteten aber in eine Art Volksbelustigung aus. Das "Blutgericht" fand bei den Kohlhöfen vor Baekern statt, Verbrennungen und Hinrichtungen mit dem Strang vor dem Berliner Tor.

Gleichzeitig waren Scharfrichter für die Abdeckerei zuständig, was ihre Knechte ausführten. Durch den Verkauf von Tierhäuten und anderen Kadaverprodukten, wie Knochen, Sehnen und Fett, erzielten sie erhebliche Einnahmen. Geschäftspartner waren "ehrsame" Handwerker, wie Gerber, Schuhmacher und Seifensieder.

Für die Brandbekämpfung hatte der Scharfrichter nach Berlin lederne Eimer zu liefern und auf das Lenzener Rathaus zwölf lederne Erntehandschuhe, "die sich die Ratsherren aufteilten".

Pforte in der Stadtmauer

Die Scharfrichter-Tradition in Lenzen endete 1827 mit dem Tod der Witwe Wentzel, denn auch Witwen konnten den Betrieb führen. Der Abdeckereibetrieb bestand bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts.

Das Scharfrichterhaus befand sich seit ältesten Zeiten direkt an der Stadtmauer hinter der Neustadt. Der Scharfrichterturm, von dem die Grundmauern noch heute erhalten sind, befand sich direkt daneben, sodass die Bewachung der Verurteilten gesichert war. Neben dem Turm befand sich eine Pforte in der Stadtmauer, damit das verendete Vieh nicht durch die Stadttore transportiert werden musste.

Georg Grüneberg, Lenzen (MAZ vom 26./27.06.04)

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05.07.2004

7. Teil: Staatspapiere reisten in silbernen Büchsen

Die Heer- und Handelsstraßen von und nach Lenzen waren Lebensnerv und für die Geschichte dieses Raumes von maßgebender Bedeutung. Schon bald nach der Herstellung der ersten für den Bootsbau geeigneten Steinwerkzeuge sind die Wasserwege eine der wichtigsten Verkehrsadern. Kupfer und Bernstein in steinzeitlichen Gräbern können als Nachweis weit reichender Handelsverbindungen in dieser frühen Zeit angesehen werden.

Aus frühdeutscher Zeit ist die Elbe als bedeutender Verkehrsweg im Hamburger Schuldbuch von 1288 bis 1311 belegt. Die Eintragungen für Zahlungs- und Liefertermine Ende März und Anfang April belegen, dass der Handel bereits nach der Schneeschmelze begann. Darunter waren vier Schiffsreisen mit geschnittenen eichenen Brettern. Günstigster Reisemonat war der Mai, der fast immer hochwasserfrei war.

Die Beziehungen der Lenzener Kaufleute reichten bis nach Gent und Utrecht; danach muss der Handel Lenzens am Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts als recht bedeutend angesehen werden. Bereits im 15. Jahrhundert sind daraus entstandene familiäre Bindungen nach Hamburg und Lübeck belegt.

Von der ältesten bis zur frühdeutschen Zeit sind zum Überqueren der Flüsse vor allem die Furten benutzt worden. Die günstigste Stelle hierfür war in unserem Raum die Tonbank bei Elbkilometer 492,5 bei Wootz. Pfarrer Handtmann schreibt, dass man noch 1893 in Kniestiefeln die Elbe auf einer Steinbarre bei Wootz durchwaten konnte.

Zur Zeit der Entstehung des Ortes Lenzen um das Jahr 1200 hatte der Wootzer Übergang seine Bedeutung noch nicht verloren. Man kam auf kürzestem Wege von Lenzen durch die Furt bei Wootz an der Burg Pretzetze vorbei in Richtung Dannenberg auf die Salzstraße nach Lüneburg oder auch nach Trebel - Lüchow - Salzwedel. Auch Dänenkönig Waldemar II. wird bei seiner Verlegung als Gefangener von der Burg Lenzen nach Dannenberg die Wootzer Furt benutzt haben. Mit dem Bau der Elbdeiche um 1300 büßte dieser Übergang dann seinen Vorrang ein.


Zwischen 1420 und 1438 erwarb Lenzen die Fährgerechtigkeit von der Familie v. Bülow in Gartow. Es entstand der Fährdamm bei Gandow ("Lenzer Fähre") der zur Hauptverkehrsader wurde mit Anschluss an den Deichweg nach Schnackenburg beziehungsweise Holtorf - Gartow. Ostelbisch verlief der Weg in Fortsetzung des Fährdammes links durch Gandow bis zum Waldrand am Gandower Berg entlang bis nach Lenzen und führte über zwei Brücken am Bergtor in die Stadt. Rechts verlief der Weg über Wustrow, Lanz, Cumlosen - Wittenberge - Wilsnack - Wusterhausen - Fehrbellin - Bötzow (Oranienburg) nach Berlin. Der Reisebericht Kaiser Karl IV., der 1375 von Pritzwalk über Perleberg nach Lenzen kam, ohne Wittenberge zu berühren, belegt, dass auch in Richtung Perleberg ein Verkehrsweg bestand.

Fährhaus hatte dicke Mauern

Richtung Hamburg führte der Weg bis zum Jahre 1705 über Geldenitz, dem heutigen Eldenburg, und Polz nach Dömitz, weiter über Woosmer Mühle und Lübtheen. Weil die Strecke oft unter Hochwasser zu leiden hatte, wurde sie verlegt und verlief dann durch den Priemer (Wald) - Verklas zur Mühle "Findenwirunshier" und Woosmer. Nördlich führte die Straßenverbindung nach Grabow und von dort in die Richtungen Lübeck, Wismar und Rostock.

Konrad von Weinsberg, der im Auftrage des Baseler Konzils nach Lüneburg reiste, benutzte 1441 die "Lenzer Fähre", wenn er vier Meilen hinter Wilsnack eine Fähre über die Elbe nahm und nach einer Meile Gartow erreichte.

Im Jahre 1490 hat sich die Stadt Lenzen mit Jürgen v. Bülow wegen der "herstrate" zwischen der Lenzener Fähre und Gartow verglichen, um den Transit für "lange grote hoppenwagen" (Hopfenwagen) der von Lenzen kommenden Fuhrleute zu sichern.

Das an der Elbe erbaute Fährhaus hatte so dicke Mauern, dass es eher einer Festung als einem Wohnhaus ähnlich sah. Das Zollhaus befand sich am Ende des Fährdammes am Rande des Dorfes Gandow. Bis 1965 hing dort noch das Schild mit den Zollgebühren.

Erst 1887 wurde die Fähre direkt an den Lenzener Hafen verlegt. Wie uns die Chronik von Zander berichtet, klagte schon damals die Stadt Lenzen über die Verdoppelung der Unterhaltungskosten der Anlegestelle und der Wege am jenseitigen Ufer.

Die Einwohner westlich der Elbe blieben Lenzen für den Ein- und Verkauf zugehörig und benutzten die Fähre zum Anschluss an die Eisenbahnstrecken bis zum Jahre 1945.

Der Zoll zu Wasser und zu Lande

Der hiesige, schon zu askanischer Zeit geschaffene Elbzoll brachte nach dem Landbuch Karls IV. den Markgrafen im 14. Jahrhundert bereits eine Einnahme von 80 Schock böhmischer Groschen, zirka 3360 Mark, das war 1/40 der Gesamteinnahmen der Zollstätten der Mark Brandenburg. 1543 wurde die Zollstätte zum Hauptzollamt erhoben. Ende des 17. Jahrhunderts brachte der Zoll jährlich die bedeutende Einnahme von 200 000 Talern. "Zum größten Schaden der Stadt wurde dieser Wasserzoll, der über 400 Jahre in Lenzen bestanden hatte, und der sich von kleinen Anfängen zu einer ganz bedeutenden Einnahmequelle entwickelt hatte, am 1. Januar 1819 nach Wittenberge verlegt".

Wie der Wasserzoll wurde auch der Landzoll 1720 vom Amt getrennt und erhielt eigene Zollbeamte. Gleichzeitig wurde Lenzen Hauptlandzollamt mit 26 Beamten. Aber auch dieses Zollamt wurde der Stadt 1828 genommen und an die Berlin-Hamburger Chaussee nach Groß Warnow verlegt. Lenzen blieb im wahrsten Sinne des Wortes links liegen. Für Lenzen blieb ein Nebenzollamt mit acht Beamten, das nach dem Anschluss Mecklenburgs an den Zollverband 1868 aufgelöst wurde.

Als Zollhaus für den Wasserzoll diente ein Gebäude auf der Burg, das Hauptlandzollamt war in der Hamburger Straße 85 untergebracht, das Gebäude wurde nach 1900 als städtisches Krankenhaus genutzt.

Die alten Handels- und Verkehrswege erhielten nach dem 21. April 1648 mit dem Anschluss Lenzens an den Postkurs Hamburg - Berlin und Hamburg - Magdeburg eine noch größere Bedeutung.

Im Jahre 1807 war Lenzen wohl das bedeutendste Grenzpostamt. Auf den genannten Routen jeweils in der Mitte gelegen, kreuzten sich hier diese beiden wichtigen Verkehrswege und brachten dadurch der Stadt einen sehr lebhaften Aufschwung und Fremdenverkehr.

Drei Posthaltereien unterhielten damals in der Stadt 86 Pferde, denn nur der planmäßige Pferdewechsel ermöglichte bei normalen Wegeverhältnissen eine Fahrtdauer von 42 Stunden von Berlin nach Hamburg. Die Anzahl der Pferde erscheint nicht zu viel, wenn man bedenkt, dass wöchentlich sechs Postkutschen durch die Stadt kamen, für die zwar in den Sommermonaten je vier Pferde genügten, die aber in den regnerischen Herbst- und Wintermonaten mit zehn oder zwölf Pferden ausgerüstet werden mussten. Und wie oft geschah es trotzdem, dass ein solches Gespann im Sumpf steckenblieb? Mit wieviel Hindernissen, gebrochenen Rädern und Straßengräben hat der Reisende Bekanntschaft gemacht?

Da der Briefumschlag erst 1836 erfunden wurde, waren die Briefe der damaligen Zeit einfache Bögen, die sorgfältig gefaltet und mit Oblaten zugeklebt wurden. Dazu kam meistens noch das Siegel. Reitende Boten, die die Briefe beförderten, hatten dazu spezielle Büchsen. Für die Korrespondenz des Publikums waren sie aus Zinn, während wichtige Staatspapiere in silbernen Büchsen befördert wurden. Im Jahre 1899 betrug die Postbeförderung in Lenzen mit den Agenturen Boberow und Kietz 397 435 Briefsendungen und 25 186 Paketsendungen.

Die Eisenbahn veränderte das Bild

Während zunächst die Postkutschen das hauptsächlichste und einzige öffentliche Verkehrsmittel für den Personen- und Warentransport waren, änderte sich das Bild mit der Erfindung der Eisenbahn.

Doch durch die Kurzsichtigkeit der Lenzener Stadtväter, die Angst vor der Verpestung ihrer Wiesen durch die Rauchschwaden hatten, wurde nicht Lenzen, sondern Wittenberge der Knotenpunkt des Schienenverkehrs Berlin - Hamburg. Hier noch einige Fakten:

• So erhielt Lenzen erst am 1. Januar des Jahres 1874 mit der Zweigbahn Wittenberge - Lüneburg - Buchholz eine Eisenbahnanbindung. Um 1900 wurden jährlich 3000 Wagen umgesetzt, davon 1200 mit Heu und Stroh im Gesamtgewicht von 120 000 Zentnern.

• Nicht zu vergessen ist der Versand des berühmten Lenzener Spargels mit der Aufschrift: "Lenzener Spargel, sehr begehrt, überall hat man's gehört, soll des Mannes Auge glänzen, koch ihm Spargel - nur aus Lenzen!"

• Jährlich benutzten 13 000 Personen die Bahn ab Lenzen. Beträchtlich war der Viehtransport mit 3300 Rindern und 6500 Schweinen.

• Die Nachkriegspläne, den Interzonenverkehr von Berlin über Wittenberge-Lenzen- Dömitz-Lüneburg-Hamburg verkehren zu lassen, wurden leider verworfen.

• Der letzte Zug von Lenzen nach Berlin fuhr am 25. September 1947, bevor auf Befehl der sowjetischen Besatzungsmacht die Demontage der Gleise erfolgte.

Georg Grüneberg, Lenzen (MAZ vom 03./04.07.04)

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12.07.2004

8. Teil: So lange gestritten, bis der Turm einstürzte

Ideell begann bereits mit der Schlacht um Lenzen im Jahre 929 die Kirchengeschichte. Denn neben der Eroberung der ostelbischen Gebiete ging es ja um deren Kolonisierung und Christianisierung. Viel Blut ist dabei geflossen.

Den ersten schriftlichen Hinweis auf ein Gotteshaus gibt es im Jahre 1066 ebenfalls im Zusammenhang mit einem für die Geschichte bedeutsamen blutigen Ereignis. "Helmolds Slavenchronik" und der Hamburgischen Kirchengeschichte des Adam von Bremen zufolge wurde am 7. Juni des Jahres 1066 der christliche Slawenfürst Gottschalk, der in Lenzen ein geistliches Stift gegründet hatte, hier von seinen heidnisch gebliebenen Stammesgenossen zusammen mit vielen "Vornehmen, Geistlichen und Laien" erschlagen. Der Priester Eppo wurde den heidnischen Göttern auf dem Altar geopfert. Gottschalk wurde vom Papst heilig gesprochen.

Neben der Lenzener Kirche existierten früher vier bedeutende Kapellen, auf dem Burgberg, dem Ziegelhof, am Sankt Gertruds-Hospital und eine auf dem Marienberg. Letztere, eine in Kreuzform gebaute Marienkapelle, soll 72 Meter im Umfang gemessen haben und barg viele Kunstschätze.

Die Anfänge des jetzigen Kirchenbaues in Lenzen gehen bis ins 14. Jahrhundert zurück. Aus dieser Zeit stammen Teile des in Ost-West-Richtung gebauten Langhauses mit seinen vier kreuzförmigen Pfeilern und die zweiteiligen schlanken Fenster der Nordmauer. Später wurden der Altarraum und die Nord- und Südportale angebaut, wodurch die Kreuzform der Kirche entstand.

Verheerende Feuersbrünste, insbesondere die vom 18. September 1646, zerstörten die Kirche fast völlig. Ähnlich hatte das Gotteshaus auch beim großen Brand am 11. Dezember 1703 gelitten, bei dem das Gewölbe an vier Stellen zusammenbrach. Bis zum Jahre 1712 war das Kirchengebäude wieder ausgebessert und schließlich bis 1724 auch der Turm neu aufgebaut worden. Über die Dramatik des Kirchturmbaues berichtet detailliert die handschriftlich überlieferte, zweitälteste Lenzener Chronik von Dr. Müller aus dem Jahre 1761. Danach hingen die Glocken von 1705 bis 1724 auf dem Kirchhof, der sich damals an der Kirche befand, weil der Turm beim großen Brand von 1703 nicht nur die Spitze, sondern auch ein Viertel seiner Höhe eingebüßt hatte. Demnach war der alte Kirchturm zirka 50 Meter hoch. Zwar wurde der Turm mit Eisenklammern versehen, doch sind dennoch mehrmals große Mengen von Steinen heruntergefallen, sodass man 1743 beschloss, das "Geläut nicht mehr zu rühren". Im Jahre 1746 hatte man den Glockenstuhl so weit geändert, dass er sich frei bewegen und nicht mehr an die Mauern anstoßen konnte.


Zu lange diskutiert

Diese Freude dauerte aber nicht lange, weil 1750 um Ostern befunden wurde, dass der Turm nach der Südseite einen neuen Riss bekam und "dahin der Fall drohte". Es wurde pro und contra in der Bürgerschaft gestritten, ob "der Turm konnte gebessert oder abgetragen werden", weil von einigen Bausachverständigen dieses, von anderen jenes behauptet wurde. Doch es wurde zu lange diskutiert.

Der Chronist Bekmann schreibt: "Aber es ist am 28. September 1751 früh um 2 Uhr das alte Mauerwerk auf der Südseite, da solches in den gemauerten Treppen schadhaft gewesen, eingestürzet und durch das äußerste Gewölbe in die Kirche geschlagen, welches auch größtentheils mit den darunter befindlichen Köhren und Stühlen zerschmettert, die Taufe umgestürzet, und die Säulen daran verderbet, auch die ohnlängst ausgebesserte Orgel vernichtet worden". Ein Viertel des Turmes war eingestürzt, die "Schlaguhr" war beschädigt und "es lagen wohl 100 Fuder Schutt in der Kirche". Weil auch der Rest noch einzufallen drohte, wurde der Gottesdienst bis auf weiteres sonntags und freitags "auf dem Rathause" abgehalten und dort das heilige Abendmahl verabreicht. Der Anfang des Gottesdienstes wurde durch das Blasen der Trompete in allen Gassen vom hiesigen Stadtmusikus, Meister Kuphal, angezeigt. Und solange keine Uhr in der Stadt war, wurde später um fünf, neun, zwölf, 16 und 21 Uhr geläutet.

1756 wurde der Rest des Turmes abgebrochen, wobei auch noch ein Gewölbe niederbrach. 1757 ruhte der Turmbau, weil der Magistrat mit dem Baumeister in Uneinigkeit geraten war.

Der Giebel der Südseite wurde zwar im November 1757 fertig, fiel aber nach zwei Tagen völlig wieder ein und "beschädigte zwei Arbeitsleute". Vom 1. bis 6. Oktober 1758 wurde ein fünfstöckiges Gerüst zum Bau der Kuppel gesetzt. Doch schon in der kommenden Nacht um 3 Uhr warf ein Sturm das Gerüst herunter, wodurch fast das gesamte Kirchendach zerschlagen wurde.

Im September 1760 wurde der Turm endlich fertig, außer dass die Schlaguhr fehlte und die zerbrochene große Glocke auf dem Kirchhof lag.

Um die Kirche dem Straßenniveau anzugleichen, ist im Jahre 1758 der gesamte Fußboden um 60 Zentimeter aufgeschüttet worden. Durch den gleichzeitigen Einbau der Emporen, insbesondere im Altarraum, ist dieser seiner Schönheit fast beraubt, schreibt Zander in seiner Chronik.

In den Jahren 1893/94 erhielt der so genannte Brauteingang am Nordportal seine 1745 zerstörte gotische Form wieder.

Einer Kirchendachsanierung in den 50er Jahren war eine kurze Lebensdauer bestimmt, weil der Dachdecker statt der kostbaren Kupfernägel verzinkte Nägel zur Schieferbefestigung benutzt hatte. Dank der außerordentlichen Unterstützung durch die Kirchen-Partnergemeinde Villingen im Schwarzwald konnte 1986 eine haltbare Kupfereinfassung des Kirchturmdaches vorgenommen werden.

Umfangreiche Sanierungsarbeiten am Backsteinmauerwerk und die Restaurierung der bleiverglasten Chorfenster erfolgten 1997 im Rahmen der Städtebauförderung.

Die Entwicklung seit der Reformation

Im Jahre 1530 sind in Lenzen acht namentlich bekannte Geistliche tätig. Der Sprengel umfasste folgende Dörfer: Mödlich, Wootz, Kietz, Seedorf, Eldenburg, Bochin, Wustrow, Lanz, Lütkenwisch, Pinnow, Pröttlin, Warnow. Noch 1565 gehören zur Lenzener Kirche zwölf Altäre und drei Stiftungen.

Mit dem öffentlichen Übertritt des Kurfürsten Joachim II. zur evangelischen Lehre im Jahre 1539 folgte ihm freudig die gesamte Bevölkerung des Landes. Doch noch lehnte der Havelberger Bischof Busso II. ab. 1542 wandte sich die Stadt an den Kurfürsten mit der Bitte, einen evangelischen Prediger zu senden. Der alte Pfarrer Schomacker erklärte sich daraufhin bereit, nunmehr "das reine Evangelium zu verkünden". Doch Lenzens Bürger lehnten ab. Er ging nach Mödlich, wo er noch bis 1560 im Amt war.

Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts hieß die Lenzener Kirche Sankt Nicolai, dann setzte sich der Name Sankt Katharinen durch. Das älteste Kunstdenkmal ist das teilweise vergoldete und bemalte Taufbecken des Braunschweiger Meisters H. Grawert aus dem Jahre 1486. Eine gotische Arkadenreihe mit den Apostelfiguren zieht sich um seine Mitte herum. Nicht so alt aber wertvoller ist der dreißigarmige Kronleuchter im Renaissancestil von 1656 aus der Werkstatt von Klas Brunnen.

Hochrelief zeigt Brezeltante

Auf einem Hochrelief an der Südseite des Mittelschiffes ist die "Brezeltante" dargestellt: Anna Grieben, geborene Götzen, starb 1617. Die Figur zeigt eine beachtenswerte Feinheit in der Darstellung des Gesichtes, der Hände und des Gewandes.

Der Überlieferung nach ist Anna Grieben die Stifterin der so genannten "Brezelsalve"". Nach einer kirchlichen Feier am Freitag vor Palmarum wurden Lehrer und Schulkinder mit Schreibpapier und Brezeln beschenkt. Dieser Brauch hat sich über 300 Jahre erhalten, bis zu den schlechten Zeiten vor der Inflation. Das Geld war alle und die Brezeln wurden so dünn, dass die Kinder sie Daupiern (Regenwürmer) nannten.

Einige Worte sind aber auch noch über die alten Kirchenbücher zu verlieren, von denen wohl jeder weiß, dass darin Taufen, Hochzeiten und Sterbefälle notiert wurden. Aber sie sind doch mehr: Sie sind Zeitzeugenberichte und Chroniken und geben viel mehr Informationen preis als man erahnen kann.

Unzucht ist eines der häufigsten Themen, für die die Frauen auf das Schändlichste beschimpft wurden. Im Jahre 1740 hat "die Gottes vergessene Hure Ilse Maria B." ihrem in Unehren erzeugten Söhnlein gleich nach der Geburt den Kopf zertreten. Die Mutter wurde dafür vor Baeckern enthauptet. Andere Kinder wurden in den Brunnen geworfen oder erstickt. Im November 1786 ordnete König Friedrich Wilhelm II. an, dass ab sofort "gefallene Weibspersonen von aller Schimpf und aller Schande verschont bleiben sollen".

Als der alte Tagelöhner Hans Müller und Judith Maria Meinckes am 14. Juni des Jahres 1740 starben, hieß es: "beyde haben den Brandwein sehr getrunken - beerdigt gratis, da nichts da". Fast 72 Jahre alt verstarb am 2. Oktober 1740 Joachim Friedrich Betke, ältester Stadtdeputierter. Über ihn heißt es: Er habe "mit seinen beyden ersten Ehefrauen eine recht vergnügte Ehe gehabt; aber die dritte war sein beständiges Fegefeuer und ob er gleich alles geduldig ertragen, so hat sie ihn vergangene Ostern, da sie 21 1/2 Jahr Eheleute gewesen, verlassen, wie sie vorgeschützt, um des Stief-Sohnes Willen, dem der seelige Mann vor einigen Jahren sein Haus übergeben. Wie der seelige Mann gestand, so wäre er nun, nachdem sie ihn verlassen, gleichsam als im Himmel gewesen."

Georg Grüneberg, Lenzen (MAZ vom 10./11.07.04)

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26.07.2004

9. Teil: "Er redete ein schauderhaftes Gemisch ..."

Für einen kleinen Personenkreis waren die Dom- und Klosterschulen des Mittelalters erste Bildungsstätten. Der Chronist Ulrici schreibt: "So sehr wir die Entsittlichung der Klostergeistlichen und der Mönche jener dunklen Zeit tadeln müssen - obgleich sie nur das allgemeine Sittenverderbniß theilten, so müssen wir doch wieder eingestehen, daß sie mindestens die Träger des wissenschaftlichen Princips waren" und weiter "der damalige Papismus bildete eine Zunft starrköpfiger Veteranen eines mystischen Glaubenszwanges mit der Geißel eines hierarchischen Eigendünkels, der die Welt an seine morschen Säulen schmieden wollte. Wissenschaften und Künste waren nicht mehr freie Geburten eines gebildeten und denkenden Geistes . . .".

Im 14. Jahrhundert nahmen die Kalandsbrüder für einzelne Bürgersöhne den Unterricht auf. In Lenzen hatten sie ihr Domizil in der Kalandsgasse, der späteren Schulstraße.

Später wurden sie durch fahrende Studenten abgelöst. Der Chronist Ulrici nennt sie "wandernde Schulmonarchen", die mit ihren Gesellen und Lehrburschen durchs Land zogen. Letztere mussten während "einer Brot- und Nahrungsvakanz ihres Meisters bei den Gutsherren, Pächtern und bei den Patriciern für ihn betteln, ja in Ermangelung des Genügenden für ihn stehlen".

Neubeginn mit der Reformation

Erst mit der Reformation begann für das Schulwesen eine neue Zeit. Die Stadt Lenzen hat 1542, nachdem die Schule in städtischen Besitz übergegangen war, ihren ersten "Schulmeister", wie man ihn damals nannte, mit geringem, aber festem Gehalt eingestellt. Der Schulmeister durfte sich ein bis zwei Gesellen halten.


Im Jahre 1600 wurde ein zweiter und 1635 ein dritter Lehrer eingestellt. Glaubt man der Chronik von Ferdinand Ulrici aus dem Jahre 1848, soll es selbst in Berlin damals nur eine Schule gegeben haben. 1637 wurde dem dortigen Lehrer Schirmer ausdrücklich untersagt, eine zweite Schreib- und Rechenschule zu errichten, "weil an der von Christian Müller schon genug sei".

Das Ausbildungsniveau der Lenzener Schule war recht hoch; fakultativ wurden Latein und Griechisch unterrichtet. Zwischen 1620 und 1650 studierten 22 Lenzener Schüler an den Universitäten Greifswald, Rostock, Frankfurt/Oder und Leipzig.

Die Schulpflicht bestand zunächst nur für Jungen im Winterhalbjahr. Per Edikt von 1683 sollte auch im Sommer Schule abgehalten werden, zu der aber niemand kam.

Im Jahre 1717 wurde die allgemeine Schulpflicht eingeführt, und zehn Jahre später, also 1727, für die Mädchen in Lenzen ein "Jungfernlehrer" eingestellt.

Dass man sich aber an die Pflicht, täglich zur Schule zu gehen, nur schwer gewöhnte, ersieht man daraus, dass in den Gerichtsakten der damaligen Zeit als häufigste Gesetzesübertretung "Schulversäumnis" angegeben war. Die Zeugnisbeurteilungen lauteten damals zum Beispiel: "Er ist nicht schlecht, indes wird's schon noch besser werden" oder "Zeigte sich fast überall seinen Kräften angemessen".

Für die Kinder, deren Eltern kein Schulgeld zahlen konnten, richtete die Stadt 1837 eine Freischule ein. Als diese Schüler vorübergehend die Stadtschule besuchten, schreibt der Rektor dieser Schule: "Die Auflösung der Freischule ist dringend zu wünschen, weil eine mehrklassige Schule im Ort ist, die zu besuchen auch diese Kinder ein heiliges Anrecht haben; denn sie fühlen sich im Bewußtsein ihrer gesteigerten Geisteskraft in der mehrklassigen Stadtschule mehr zur Arbeit und zum Fleiße hingezogen und machen mehr Fortschritte. In ihrem Betragen sind sie am folgsamsten gewesen und stehen an Reinlichkeit und Sauberkeit den Stadtschülern durchaus nicht nach." Die städtischen Behörden lehnten jedoch die Auflösung der "Armenschule" ab. Sie bestand noch bis zur Aufhebung des Schulgeldes im Jahre 1888.


Das Schulgebäude hinter der Kirche ist im Jahre 1826 mit fünf Klassen und fünf Lehrerwohnungen eingeweiht worden. In einer 8. Klasse gab es 1883 wöchentlich neben den Fächern Religion, Deutsch, Chemie, Physik, Erdkunde, Geschichte, Gesang, Biologie, Zeichnen und Turnen sechs Stunden Mathematik und fünf Stunden Französisch. Im Jahre 1888 gab es noch 64 Einschulungen und insgesamt 484 Schüler, die von zehn Lehrkräften unterrichtet wurden. Im Jahre 2002 waren es nur 15 Einschulungen bei einer Gesamtschülerzahl von 240, die von 21 Lehrern unterrichtet wurden.

Das Lehrerkollegium - Raufbold bis Dr. phil.

Was war von den Lehrern des 15. und 16. Jahrhunderts zu erwarten, die oft selbst in Roheit und Unwissenheit aufgewachsen sind, schreibt Chronist Ulrici, die das Lehren als handwerksmäßigen Broterwerb ohne Interesse an der eigenen Fortbildung betrieben?

Einige Entlassungsgründe sprechen für sich:

1600: Barthol. Pohle und sein Kollege "umb das sie sich auf der Schule geschlagen, und einander die Bärtte außgerauffet".

1641: Erasmus Heyger "dem Gesöffe ergeben und öffters 2, 3, 4 und mehr Tage verreißet".

Doch geschickte Gelehrte, darunter einige mit "academischer Doctorwürde", trugen zur Entwicklung des Schulwesens in Lenzen bei. Zu den herausragenden Persönlichkeiten zählen Wolfgang Ludwig Karstedt (bis 1741) und Ferdinand Ulrici (bis 1862). Beide sind Verfasser von Lenzener Chroniken.

Als Vergünstigung wurde dem Schulmeister im 16. Jahrhundert gestattet, in der Stadt reihum essen zu gehen. Es heißt: "de Scolmester met sien Geshell äten wekentlig twemol met dem Ambtsscriber ut eenen Pott." Diese für alle lästige Verpflichtung wurde zwar im 17. Jahrhundert durch Speisegelder abgeschafft, doch zwang das geringe Einkommen besonders die Lehrer auf dem Lande dazu, neben der Lehrtätigkeit einen zweiten Beruf auszuüben. Meistens waren sie Schneider, und die immer bereit liegende Elle diente oft dazu, Zucht und Ordnung in die Schulstube zu bringen.

Im Heimatmuseum Lenzen existiert ein Schreiben des Lehrers Jahn aus Lanz (Vater des Turnvaters Jahn), in dem er im Jahre 1809 für den Schneidergesellen Schultz aus Ferbitz darum ersucht, dass dieser neben dem Schulehalten das Schneidergewerk ausüben dürfe, "weil er von dem wenigen, was das Schulehalten einbringt", nicht leben könne. Schon in einer "Declaration" im Jahre 1736 wurde allerdings festgelegt, dass sie nur Bauernkleider anfertigen durften, um den hauptberuflichen städtischen Schneidern nicht zu sehr Konkurrenz zu machen.

Aus der Görnitzer Schulchronik ist bekannt, dass der dortige Schulhalter Wegener nebenbei das Tischlerhandwerk mit Gesellen ausübte. Wie das funktionierte, kann man sich kaum vorstellen, aber Wegener war 43 Jahre im Amt, als er sich 84-jährig im Jahre 1870 pensionieren ließ. Die Bewerbung eines Schulhalters auf dem Lande bestand bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts oft nur aus einer Schriftprobe. Dagegen heißt es in einer Bewerbung um eine Rektorenstelle im Jahre 1673 in Lenzen: Er wolle nicht nur "die hießige blühende Jugend zu aller pietät und allen gueten Künsten anweißen, sondern auch derselben mit einem exemplarischem untadelhafftem Leben vorläuchten".

Zu den Aufgaben des Schulmeisters Johann Georg Wagener gehörte laut Vertrag auch "die große Uhr in dem Kirchen-Thurm zu stellen" und "weil solches viele Mühe erfordert", bekam er dafür vier Taler extra, die sich Stadt und Kirche teilten.

Lehrer Hermann Schütz

Eines Lenzener Lehrers soll hier besonders gedacht werden, Hermann Schütz, der von 1857 bis 1901 in Lenzen tätig war. Jahrzehntelang gehörte der Junggeselle aus Überzeugung zum festen Bestand der alten Lenzener Originale. Jeder kannte ihn und wusste Originelles von ihm zu erzählen.

 

Zu Schützens Eigenarten gehörte seine Sparsamkeit, ja sein Geiz, denn auch sich selbst gönnte er nicht das Geringste. Essen und Trinken waren ihm gänzlich Nebensache. Zu den Mahlzeiten gab es hauptsächlich selbst eingelegten Hering. Die Essensreste, Kopf und Schwanz des Fisches, flogen zuweilen durchs Fenster auf die Straße.

Gegen Hitze und Kälte war er gleich unempfindlich und trug Sommer wie Winter denselben Anzug. Es heißt: "Seine geringe pädagogische Bildung glich er durch sein wichtigstes Erziehungsmittel, den Rohrstock, aus. Seine Sprache war recht einfach, er redete ein schauderhaftes Gemisch aus Hoch-, Plattdeutsch und Berliner Dialekt, gab aber selbst auch Deutschunterricht."

Auf dem Gebiet der Naturwissenschaften zeigte er sich jedoch als wirklicher, von der Fachwelt anerkannter Gelehrter. Die äußerst spartanische Lebensweise erlaubte dem Junggesellen jährlich interessante Reisen in die verschiedensten Länder zwischen Spitzbergen und Afrika.

Neben dem Studium der Moose und Algen war er Kakteensammler und Ornithologe. Viele Raritäten waren in seinen kostbaren Sammlungen von Schmetterlingen, Käfern, Vögeln, Vogeleiern, Fossilien und Mineralien zu bewundern.

Von seinem Besuch im Naturkundemuseum in Berlin wird folgendes berichtet: Mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit betrachtet Schütz die Schmetterlingsexponate, bis schließlich der Aufseher auf ihn aufmerksam wird und fragt, warum er so lange vor ein und derselben Vitrine stehe. Schütz: "Da fehlt einer!", und lang und breit erklärte man ihm nun, dass es sich um ein ganz besonders seltenes Exemplar handeln würde, das nicht zu beschaffen sei. Darauf Schütz: "Aber ick hab ihn!"

Das Angebot, ihm den Schmetterling abzukaufen, schlug Schütz aus.

Leider gingen durch unsachgemäße Behandlung in den letzten Jahren zirka 20 Prozent der Sammlung verloren. Nicht hoch genug ist das persönliche Engagement von Jochen Köhler, Entomologe (so nennt man die Insektenkundler) in Tießau bei Hitzacker einzuschätzen, der in unzähligen Stunden die komplette Sammlung neu präparierte und ordnete. Ein Teil der Sammlung ist in der stadtgeschichtlichen Ausstellung auf der Burg Lenzen zu bewundern.

Mit dem namhaften Geheimrat Aschersohn, Professor und Publizist an der Berliner Universität, stand Schütz im Briefwechsel.

Seine botanischen Forschungsergebnisse aus dem Raum Lenzen erschienen bei Potonié 1883 und 1886, seine ornithologische Sammlung wird in dem bedeutenden Werk von Schalow in "Beiträge zur Vogelfauna der Mark Brandenburg" 1919 erwähnt.

Das tägliche Leben von Schütz verlief regelmäßig. Täglich um 18 Uhr begab er sich auf einen längeren Spaziergang. Wandern - und zwar mit langen Schritten - mochte er überhaupt gern. Er war auch begeisterter Schlittschuhläufer. Als Turnlehrer hat er durch seine energische Ausbildung im Geräteturnen wie in Freiübungen Vorbildliches für die Schule geleistet, zuweilen fuhr er allerdings allzu heftig mit seinem Spazierstock dazwischen.

Trotz äußerlicher Rauheit hatte er ein warmes Herz, doch es heißt: "Seinen guten Kern bekam man nur selten zu Gesichte." Widerspruch konnte er nur sehr schwer ertragen und es ist daher kein Wunder, dass er nur wenige Freunde besaß.

Trotz der angeblich schlechten Ernährung konnte Schütz bis in die letzte Zeit seines Lebens seine Reisen und weite Spaziergänge unternehmen und ist ein alter Mann geworden. 1901 wurde Hermann Schütz der "Adler der Inhaber des Königlichen Hausordens von Hohenzollern" verliehen.

Georg Grüneberg, Lenzen (MAZ vom 17./18.07.04)

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26.07.2004

10. Teil: Komponisten, Chronisten und Heimatdichter

Bis dato unbekannt ist, dass in Lenzens Mauern ein bedeutender Kirchenmusiker am 26. Oktober 1610 geboren wurde. Es handelt sich um Caspar Movius, der von 1629 bis 1634 in Greifswald und Rostock Theologie studierte. Dann wurde er als Subrektor an das Gymnasium nach Stralsund berufen. Bis zu seinem Tode im Jahre 1667 wirkte er dort als Konrektor.

Beate Bugenhagen, Studentin am Institut für Kirchenmusik & Musikwissenschaft in Greifswald, teilte dazu folgendes mit: Movius' kompositorisches Schaffen ist ausschließlich der geistlichen Vokalmusik gewidmet. Die generalbassbegleitenden Gesänge seiner ersten Sammlungen "Hymnodia Sacra" 1 und 2 entstanden 1634 und "Psalmodia Sacra Nova" (Geistlicher Concerten neues Werck) 1636. Weitere folgten, wie zum Beispiel "Triumphus Musicus Spiritualis" für sechs bis acht Singstimmen und Generalbass im Jahre 1640. Von der Fachwelt wird Caspar Movius (Mowen) zu den 44 herausragendsten Musikern seiner Zeit gezählt.

Anlässlich der Heinrich-Schütz-Tage vom 9. bis 11. September wird in Greifswald eine Magnifikatvertonung von Movius erklingen.

Die Chronisten

Der Lenzener Lehrerschaft entstammen mehrere Chronisten. So wurde die älteste handschriftliche Lenzener Chronik von Rektor Wolfgang Ludwig Carstedt 1736 verfasst. Er stellte sie in einer öffentlichen Schulfeier am 12. Dezember besagten Jahres der Bevölkerung vor, um so das Interesse der Eltern an der Schule zu heben. Die zweitälteste, ebenfalls nur als Handschrift erhaltene Chronik, verfasste der approbierte Lenzener Arzt Joachim Ludwig Müller im Jahre 1761. Die Standorte beider, lange als verloren geglaubter Manuskripte, sind bekannt. Sie befinden sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin und im Pfarrarchiv Lenzen.

Bemerkt sei an dieser Stelle, dass Lenzen schon im Jahre 1699 mit Dr. Schondorf aus Glaucha seinen ersten approbierten Arzt hatte. Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts wurden Ärzte vom Rat der Stadt als "Stadtphysicus" berufen; sie bezogen ein festes Einkommen von etwa 50 Talern.

Neben den wissenschaftlich gebildeten Ärzten waren bis zur Mitte des 19. Jahrhundert auch noch geschickte Wundärzte und Chirurgen tätig, die sich teilweise "ihren Erwerb nebenbei durch Rasiren zu verschaffen suchten", so wie auch später Friseure noch Zähne zogen. Auf dem Lande waren "Quacksalber" tätig.

Ein weiterer Rektor der Schule, der zugleich immer erster Knabenlehrer war, verfasste die ersten gedruckten Chroniken unter dem Titel "Lenzen und seine Bewohner", Salzwedel 1835 und "Die Prignitz und die Stadt Lenzen", Perleberg 1848. Pfarrer Carl Zander veröffentlichte schließlich im Jahre 1901 die nach wie vor ausführlichste "Chronik der Stadt Lenzen". Eine weniger detaillierte Chronik wurde von Willy Hoppe anlässlich der Tausendjahrfeier von Lenzen im Jahre 1929 herausgegeben.

Umfangreiche chronikalische Aufzeichnungen gibt es außerdem von Konrektor Fritz Möllmann (1865-1954), der zusammen mit Rektor

Hoepfner im Jahre 1928 den Heimatverein für Lenzen und Umgebung gründete, dem noch im selben Jahre 162 Mitglieder angehörten.

Der 1905 in Lenzen geborene Hans Braun (gestorben 2003) hielt seine Lebenserinnerungen in dem leider nur maschinenschriftlich veröffentlichten Büchlein "Ja, damals . . ." fest.

Heimatdichter Hermann Graebke

Einer bedeutenden Persönlichkeit soll an dieser Stelle ebenfalls gedacht werden, dem Heimatschriftsteller Hermann Graebke, der um die Mitte des 20. Jahrhunderts große Popularität erlangte. Er wurde im alten Kalandshaus in der Schulstraße im Jahre 1833 geboren.

Sein Vater war von 1818 bis 1856 Elementarlehrer an der Lenzener Stadtschule; und dessen Ahnen waren schon seit mindestens 1650 ureingesessene Lenzener. Den grün schimmernden Schlafrock zusammenhaltend, Schlappen an den Füßen, "een lang Piep" im Mund, so eilte "Unkel

Graebke" mit trippelnden Füßen die Straße entlang zu Tante Müller, die im Haus neben der Schule wohnte. Meist gesellte sich noch Großmutter Vogelsang dazu, und unter Pfeifesaugen und Rauchauspusten des alten Graebke wurde ein gemütlicher Schnack in der Schummerstunde gehalten. In diesem Milieu fand sein Sohn Hermann schon damals reichlich Stoff zu seinen späteren humorvollen, plattdeutschen Dichtungen.

Über seinen Lebenslauf schreibt Hermann Graebke selbst folgendes: "Am 22. Juli 1833 bün ick to Lenzen an de Elw geboren, wo mien Vadder Lehrer wär. Gern har ick eenen Beruf wählt, bi den ick in Feld und Wald mien Beschäftigung fünn; doch Vadder wär dormit nich inverstohn. Ick kem in de Präparandenschol to Lenzen un spärer up dat Seminar to Potsdam. To mien Präparandentied wär ick, sovöl ick künn, in de freie Natur. Oft stünn ick in'n Hochsommer mit den Dag up, güng an de Elw orer an den Lenzner See un kem to d' Kaffeetied mit een Hand vull Blomen werrer trügg; un nohmiddags, wenn dat Wärer nich gor to schlecht wär, seet ick mit mien Böker in'n Amtsgorden, un immer up de Bank, wo mien herzleew Mudder dat letzte Mol in ehr sorgenvull Leben seeten hett."

Wie sehr Hermann Graebke Feld, Wald und Flur und die singende Natur liebte, schildert er in dem Vorwort zu seinem Gedichtband "Prignitzer Vogelstimmen". Sein Elternhaus grenzte rückseitig an den Lenzener Burgpark. "Lang, lang ist's her, as ick noch bi Vaddern und Muddern wär un mi freuen ded öwer dat Frühjohr, wenn dat ankem mit de grönen Blärer, de dusend Blomen un de völen Vögel. Wat wär'n dat för schöne Stunn'n, wenn ick morgens in mien Koamer, in mien lütt Heiligtum upwoken ded un de Sperlings ut ehr Nester unner't Dack rutpiepten un de Drossels hinn'n in'n Amtsgorden so schön schlögen! Wo fix wär ick denn ruter ut dat Bedd un moakt dat Fenster up. Un wenn ick denn werrer in de Posen leg, stimmten se all ehr Led an, de lütten Piepvogels: de Fink, de Grasmück, Schult von Bülow (Pirol) un wo se all mögen heeten. Wär dat een schön Konzert!" Und "männigmohl, wenn dat Wärer schön wär, treckt ick mi, so as dat Morgenrot an'n Hewen upstieg, fix und faerig an, schliek mi liesen ut dat Hus . . . un den güng dat inn'n Draw rut vör dat Dor un hen noh de Hexenfohrt".


1853 kam Hermann Graebke als Lehrer nach Putlitz. Dort gründete er einen Gesangverein und einen Turnverein und übernahm von beiden den Vorsitz. Er schrieb: "Dabi bleew mi öwerst noch sovöl Tied, dat ick mi een Wiew nehmen un een Jungen uptrecken künn".

"Da mi in Potlitz dat Geld öwerst immer knapp wär, güng ick noh Berlin, wo ick höllisch völ to verdeenen glöwt. Fru un Jung kem'n noh. Mien erst Beschäftigung fünn ick in een "Töchterschule für gebildete Stände". Dat Gehalt wär gewaltig lütt; ick har öwerst dat Glück, noh fief Monaten an de Dorotheenstädtische Realschule un spärerhen an dat 'Andreas Realgymnasium' een Stell to kriegen".

"Mien leew Heimat leg mi in Berlin immer in'n Sinn, un ick füng an, 'n poor Schnurren un ok dat, wat min Herz bewegen ded, plattdütsch doltoschriewen".

Hierüber sagt er: "Is recht trurig, dat dat hüttodoog völ Minschen giwwt, för de all de schönen plattdütschen Sachen kenen Wert hemmen, un de, wenn se ok in een plattdütsch Land up de Welt komen un da upwussen sünd, sick schämen, plattdütsch to reden, so as de Schnobel wussen is . . . Liggt doch ok in dis lew Sprok sovöl Sang und Klang un sovöl Saft un Kraft, as in keen änner!"

Hermann Graebkes besonderer Verdienst besteht darin, dass er diese Heimatsprache durch seine Dichtung nicht nur förderte, sondern auch in der Großstadt Berlin einen Verein gründete, der sich "de Upgow stellt het, de plattdütsch Sprok to hegen un to plegen, damit se nich verloren geiht, un damit ok de Sprichwörer, Kinnerleeder un änner Schätz, de sick in de hochdütsch Sprok no niks anhörn, för uns leew Vadderland erhollen bliewen". "Sönnobendsobend, wenn ick mit Fründen tosamen kem, de plattdütsch verstünnen un plattdütsch snacken künnen, füng ick an, mien Reimerei vörtolesen".


Aus dem gegründeten Berliner Verein "Frohsinn" wurde später der "Prignitzer plattdeutsche Verein", daraus wiederum der "Prignitzer Heimatbund", der noch bis zum Jahre 1944 bestand.

Eines der Graebkeschen Gedichte wurde sozusagen zur Hymne der Prignitz.

Mien Heimatland

Wo de Elwstrom geiht,
dörch dat Land sich dreiht

Havel, Löcknitz, Stepnitz un de Doss',

wo so wunnerschön

Heid’ und Wischen blöhn

un up saftig Weid’ werd fett de Oss:

Ach, dat schöne Land, is mien Heimatland, is mien leew, mien herzleew Prignitzland.

Wo neb’n Weitenland
sich hentreckt de Sand

un in’n Fichtenwald de Hester schreit,

dörch den Eikenwald

Dag un Nacht lud schallt,

wat de Nachtigall all’s singen deit:

Ach, dat schöne Land, is mien Heimatland, is mien leew, mien herzleew Prignitzland.

Wo mien Weeg het stohn,
ick in d’ School bün gohn,

mien leew Öllern sich hemm’n plackt un plogt,

so noh plattdütsch Ort,

jedwer hölt sien Wort

un sien Not den leewen Herrgott klogt: Ach, dat schöne Land, is mien Heimatland, is mien leew, mien herzleew Prignitzland.


Graebkes Schriften gingen bis nach Übersee und wurden in den Dörfern und Siedlungen Amerikas und Afrikas, in denen sich viele Auswanderer aus Lenzen, Mödlich, der Wische und anderen Prignitzer Dörfern und Städten befanden, gelesen. Wie wäre es sonst möglich, dass ein Schwarzer einem Prignitzer in der Chicagoer Straßenbahn plattdeutsch antwortete, und auf die Frage, woher er es verstünde meinte: "Da is mien Mudder an schuld".

Dass nicht alle Gedichte gleich wertvoll waren, wusste Graebke sehr wohl, was er wie folgt ausdrückte: "Kamellen wassen in de Prignitz, wer weet wovöl! Ick sülwst hew as Jung för mien lew Mudder oft weck plückt bi Lenzen und hew hellisch dabi uppaßt, dat keen Hunnenblömer mang kemen. Un de Tee, den mien lew Mudder davon koken ded, wenn eener von uns Bukwehdoag har, slög immer god an.

Nu, da ick een utwussen un bald utlewt Minsch bün, hew ick werrer anfungn, Kamellen to plücken, de sick utseiet hemmen up Prignitzer Land. Hunnenblömer wern woll völ mit mang sin; ick kann dat nu nich mehr ännern un weet dat ok nich so genau.
Öwerst de Tee is jo allen god bekomen". "Det an de Geschichten völ uttosetten is, det wet ick, det brukt mi keen Recesent to seggn.

Sönnobends Obend müßt ümmer en Gedicht faerig sin; un weil ick von Natur beten fuhl bün, güng ick immer erst spät an de Arbeit, un to d' Utstrieken un Verbetern blew keen Tied. Mi sülwst kümmt dit Bok vör as en Schapp, det keen Discher mokt hät, det vonn'n Timmermann tosamm baut un werer ansträken noch poliert is".

Den Menschen für ihren Alltag recht viel Freude zu schenken, war Graebkes Wunsch, und dieser hat sich bis heute voll erfüllt. Neben dem Humor spricht aber manchmal auch bittere Erfahrung des Lebens, Ernst und Weisheit des Alters aus seinen Zeilen.

Hermann Graebke starb am 8. August 1909 in Berlin-Karlshorst. Seine Werke: "Plattdeutsche Gedichte", Berlin 1879, "Prignitzer Kamellen und Hunnenblömer", Zürich 1896, "Prignitzer Vogelstimmen", Berlin 1902, das (hochdeutsche) Märchenbuch "Großmutter in der Kinderstube", Leipzig 1905, das Theaterstück "Der Rattenfänger von Hameln", Leipzig 1907 und das im Prignitzer Platt geschriebene Theaterstück "Een Verlobungsdag", Pritzwalk 1909. Die Lenzener Natur- und Heimatfreunde führten mit Begeisterung in den 50er Jahren dieses Theaterstück im Wittigschen Saale auf. Einige der damaligen Schauspieler, wie Gerda Makel, Helga Fuchs und Hans-Joachim Vogelsang können davon heute noch berichten.

Martha Tiedke

Graebkes Tradition wurde in Lenzen von Martha Tiedke fortgeführt. Die 1880 Geborene, arbeitete während des Ersten Weltkrieges im Postdienst und wurde dann Handarbeitslehrerin. Von Zeit zu Zeit fuhr sie nach Berlin, um im Kreis der ehemaligen Prignitzer plattdeutsch vorzulesen. Durch ihren Handarbeitsunterricht kam Martha Tiedke von Dorf zu Dorf und hörte manch lustiges Erlebnis, dass sie dann in Verse brachte. In dem Gedicht "Unschüllig" schildert sie die wahre Begebenheit von "Fru Amtmann Fett ut Unbesandten", die sich versehentlich auf der Bahnhofstoilette einschloss, wobei der Nachtwächter, der ihr die Funktion des Eisenschlosses erklären wollte, mit ihr dort gefangen saß. "So köm oll Furcht un Amtmanns Fru unschüllig to dütt Rangdewuh!"

Eines ihrer schönsten Gedichte sei hier präsentiert:

Up Wannerschaft

De Lenzner sünd all brav und bieder,
det wär ok Vadder Guhl, de Snierer.

Wat wäe he bi dat Neihen fix!

Wo rasch wär faerig Jack un Büx!

Doch eenen Faehler har de Mann:

he passt det Tüch nich oft nook an,

un hoalten’t af denn Buss’ un Schütt’,

wär ümmer Jack un Büx to lütt.

Weck haren denn en loset Mul

un nämten em „Zwangsjackenguhl“.

As Guhl noch in sien junge Johrn
(in Gannow wär de Bengel born)

det Sniererhandwerk har utlehrt,

un mütt Geselln nu verkehrt,

da meinten siene braven Ollen,

- so gern se em to Hus beholln

-,de Tied wär ran un he vull Kraft,

he müsst nu ook up „Wannerschaft“.

Doch Korl, de wull to Hus blot bliebn
un sick nich in de Welt rümdriebn.

He blew - (för’t Wannern har he Schock-) vöhl leewer hinner Mudders Rock.

Oll Guhl hätt irnsthaft mit em snackt,

un Mudder hät den Ranzen packt.

Und endlich denn de Dag nu kem,

wo Korl von’t Öllern Avschied nehm.

Mit goode Wünsch un beeten Geld

tog he denn in de wiede Welt.

- De Ollen dachten - so alleen:

Wann wärn wie em nu werrersehn?

As een Woch nu rümmer wär,
kloppt abends wat an Guhls ehr Dör.

De Oll föhrt ielig in sien Büx

un moakt de Husdör open fix.

Rin in det Hus, rupp upp denn Böhn

löppt Kohrling, Guhls ehr leewe Söhn.

Nu gev det jo denn ännern Dag

bie Guhls ’n hellisch grooten Krach.

Se dachten, he bleev weg ’n Joahr,

nu wär de Bengel all werr doar!

Wat wär oll Vadder Guhl empört!

„In’t ganze Dörp hest uns blameert!

Det segg ick di in düsse Stunn:

Von Böhn kümmst mi nich eher runn,

bet diene Wannertied vergohn,

kannst di nu hier de Tied verdohn.

Verpett di nu man hier de Been,

de Doerpschen doerben di nich sehn!“

Un Mudder seggt: „Nu lot det Strieden, Not brukt he hier ja nich to lieden

mi geiht det ok jo geg’n Strich,

doch rünnerkoamen doerft he nich!

De Tied de geiht nu hen ganz sachten,
un änners kümmt’t as Guhls det dachten.

Jung Korl, - Guhls ehr leeve Söhn,

- de wärd all fett up’n Gäwelböhn.

As ens he an dat Finster lehnt

un sick no Wald un Feller sehnt,

dor fangen upp de Strot poor Rangen

sick an to prügeln un to wrangen

un haun sick mächtig watt an’t Mul.

Det wär so watt vör uns Korl Guhl!

He kriegt de Wut, - un mit een Wupp

ritt he de Gäwelfinster upp,

- un luthals bölkt he dunn von bobn:

„Lot mi man erst mol rünnerkoam’n,

denn will ick ju de Ohr’n lusen,

un Koelken schloag ick in de Kusen!

Ji weeten doch, waet ick för ’n Kraft!

Noch bünn ick män upp - Wannerschaft!


Beim Festumzug zur Jahrtausendfeier 1929 verkörperte Martha Tiedke die "Brezeltante". Als im Mai 1945 die Russen in Lenzen einmarschierten, schied Martha Tiedke freiwillig aus dem Leben.

Georg Grüneberg, Lenzen (MAZ vom 24./25.05.04)

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02.08.2004

11. Teil: Das 19. Jahrhundert - Als die Stadt mehr Einwohner hatte als heute

Mitte Oktober 1800 erhielt der Bürgermeister Lenzens den Auftrag, ein Schiff von der Lenzer Fähre bis zur Grenze Mecklenburgs zu begleiten. An Bord war der berühmte Lord Nelson (1758-1805), der von Dresden kommend über Hamburg in seine Heimat England unterwegs war. „Der einarmige Mann mit einem Auge, der als ’Lord vom Nil’ angeredet wurde, stand in hellem Licht des Ruhmes der Vernichtung der französischen Flotte bei Abukir im Jahre 1798. Weich umrahmte etwas welliges Haar sein schmales Antlitz mit der mutvollen Prägung“. So berichtet es ein Lenzener Zeitzeuge. Unter dem Schutz der Stadt Lenzen wurde Nelson als einer der berühmtesten Seehelden von hier bis nach Dömitz geleitet.


Lenzen und die Freiheitskriege

 

Mit der Schlacht bei Jena im Jahre 1806 begannen auch für Lenzen schlechte Zeiten. Bald nachdem die Niederlage gegen die Franzosen bekannt wurde, rückten auch Teile von Blüchers Truppen durch das Berliner Tor in Lenzen ein, um hier Quartier zu nehmen. „Die Lenzener ließen die Köpfe hängen, sie zitterten in ihrer Angst vor Plünderungen, und mancher schlich sich davon, um Wertsachen zu vergraben. Einer von den Husaren sprengte mit Erlaubnis des Offiziers aus dem Gliede, und die Jugend, die ihn erkannte, folgte ihm bis zum Vaterhause. Bald war es in Lenzen herum, dass Husar Lindner bei seinen Eltern weilte. Bis in die Dunkelheit blieb er. Erst als die letzte Deckung den Feind vor den nächsten Dörfern meldete, sprengte er davon, um sein Regiment noch im Nachtquartier zu treffen.


Schon am nächsten Morgen war der französische Feind in Lenzen. Schlimme Zeiten begannen. „Die Einquartierung verlangt die teuersten Gerichte zum Mittags- und Abendtisch, und dann muss jeden Mittag noch ein Silberstück unter jedem Teller liegen.“ Viele Leute wurden dabei bitterarm.

 

Der Geist des Widerstandes erwachte unter diesen Repressalien. Die Seele des erstarkenden Patriotismus war der 1806 ausgemusterte Leutnant Roost aus Breetz.

Er war Mitglied des bald wieder verbotenen Tugendbundes. Vor den einsam gelegenen Breetzer Scheunen sammelte er schon 1808 zwei- bis dreimal wöchentlich die Jugend um sich und bildete sie militärisch aus. In den Freiheitskriegen und in der Landwehr kam ihnen dies zugute.


Lenzener Butterkuchen für russische Offiziere

 

Nachdem die Russen am 4.März 1813 die Franzosen aus Berlin vertrieben hatten, waren sie wenige Tage später, wie schon einmal 1806, in Lenzen einquartiert. Diesmal waren sie Richtung Hamburg unterwegs, um die schwer heimgesuchte Hansestadt zurückzugewinnen. Möllmanns Chronik berichtet: „Verschiedene Nächte lagen sämtliche Bürgerhäuser voller Russen, die als Recht für ihre Befreiung Deutschlands noch roher als die Franzosen ihre Lieblingsgerichte forderten. Sie tranken den Lenzenern buchstäblich sämtliche Vorräte an „Korn“ aus. Des morgens verlangten sie zu ihrer Buchweizen- oder Hafergrütze noch Eierkuchen und auch „Lose Wurst“. Zum zweiten Frühstück waren sie mit einem Schmalzbrot zufrieden, und am Mittage schmeckten ihnen Linsen mit Obst am besten. Die Offiziere bekamen Kartoffelsuppe, die noch als Delikatesse galt, da die Ackerbürger höchstens drei Fässer voll auf dem Boden verstauten. In einigen Patrizierhäusern schwang man sich trotz der Notzeit zu Kuchen auf (den man sich sonst nur an den drei hohen Festen gönnen konnte). Kuchenbleche kannte man damals noch nicht. Weizenmehl wurde mit Milch und Wasser eingerührt und die Bärme von dem Bier genommen, das man selbst braute. Den Teig rollte man sodann zu Stücken in Größe eines Stuhlsitzes aus, worauf die einzelnen Kuchen, nachdem sie 'gegangen' waren, mit einer flüssigen Masse aus Bier und geschlagenem Ei übergossen wurden. Zu sämtlichen Kuchen verbrauchte man noch 1/2 Pfd. Butter und 1/2 Pfd. Zucker." Den Streuzucker, der erst 1849 'mit Mißtrauen' zum Verkauf kam, stellte man noch aus Rohzucker selbst her. Selbst für die russischen Offiziere war dieser spezielle Lenzener Butterkuchen eine auserlesene Zugabe, zu der ihnen der Korn besonders gut mundete. Außer der Einquartierung sah Lenzen durchmarschierende Abteilungen, die des Mittags auf dem Markte gespeist wurden. Das Mahl wurde für sie in allen Häusern bereitet. Die Kessel mit Grütz- oder gar Bohnensuppe trug man zu zweit an Stangen auf den Markt. „Das warme Essen gefiel den Russen, die ob ihrer guten Stimmung ihre Heimatlieder anstimmten.“


„Der König rief, und alle, alle kamen“

 

Nach einem feierlichen Gottesdienst am 18. März 1813 in der Lenzener Kirche fanden sich die Jünglinge des Tugendbundes und weitere Freiwillige zusammen und marschierten nach der Musik „Ein feste Burg“, das die Stadtkapelle vom Kirchturm zu blasen begann, zum alten Töpferfriedhof hinter der Berliner Vorstadt. Am Grabe eines Kriegsinvaliden aus dem Siebenjährigen Kriege gelobten sie: „Wir wollen treu und tapfer sein, wie der Kämpfer hier im Grabe. Wir kehren als Sieger heim oder bleiben auf dem Schlachtfelde.“

 

Nach Monaten kam die Nachricht nach Lenzen, auf die alle stolz waren: Es war die Verleihung des ersten Eisernen Kreuzes an einen Lenzener, den Freiwilligen Karl Albrecht. Er und Ludewig v. Schrötter wurden bald darauf Leutnant. Doch in der Entscheidungsschlacht bei Leipzig fielen beide. Auf der neu hergestellten bronzenen Gedenktafel für die Gefallenen der Freiheitskriege 1813-1815 finden wir ihre Namen mit zwölf weiteren wieder. Anlässlich der Festwoche zur 1075-Jahrfeier von Lenzen wird am 29. August um 9.30 Uhr das neu gestaltete Denkmal für die Gefallenen der Kriege 1813-1815, 1866 und 1870/1871auf dem Hohenzollernplatz durch den Prinzen von Preußen feierlich eingeweiht.

 

Leichter als manch anderer Stadt ist es Lenzen geglückt, die ihr aus den französischen Kriegen erwachsene Schuldenlast wieder abzutragen; der Verkauf eines Teiles von dem herrlichen Eichenholz in der Kuhblank, das sich schon in früheren Zeiten oft als Goldquelle erwiesen hatte, deckte die Verbindlichkeiten der Stadt vollständig.

 

Doch der Umstand, dass der alte, seit Jahrhunderten hier bestehende Elbzoll 1819 von Lenzen nach Wittenberge verlegt wurde, und die Aufhebung des bedeutenden Grenzpostamtes im Jahre 1828, ebenso die in demselben Jahre erfolgte Verlegung des Haupt-Landzollamtes von Lenzen nach Groß Warnow schädigten die Stadt auf das Empfindlichste, schreibt der Chronist Zander. Über Jahrhunderte war Lenzen ein bedeutender Verkehrsknotenpunkt, der unzählige Handelsreisende und Prominenz in den Ort brachte. Lenzen blieb im wahrsten Sinne des Wortes links liegen. Im Haupt-Landzollamt in der Hamburger Straße war später das Krankenhaus untergebracht.

 

Am 13. Juni 1822 hatten Lenzens Bürger die Freude, ihren König hier zu begrüßen. Er war auf der Rückreise von Ludwigslust, wo sich seine Tochter Alexandrine mit dem mecklenburgischen Erbgroßherzog Paul Friedrich vermählt hatte. Schmerzhaft für die Lenzener war die Tatsache, dass feierlichen Begrüßungsveranstaltungen und Ehrenbezeugungen bei strenger Strafe verboten wurden, „weil der König daran gar keinen Gefallen habe“.

 

Anlässlich eines früheren Besuches der Königin Louise soll diese beobachtet haben, dass die noch vor den Häusern lagernden Dunghaufen anlässlich ihres Besuches mit Eichengrün und Blumen geschickt abgedeckt worden waren. Sie bedankte sich für den netten Empfang und die üppige Blumenpracht ihr zu Ehren, fügte aber lächelnd hinzu, dass sie den besonderen Duft dieser Blumen nicht vergessen werde.


Das Gasthaus der „Goldene Stern“

 

Nach den Freiheitskriegen rückt um 1832 das Gasthaus der „Goldene Stern“ erneut in den Blickpunkt der Geschichte. Früher waren hier die sogenannten Werber Friedrich Wilhelms I. tätig. Auf der Suche nach den „Langen Kerls“ für die Leibgarde in Potsdam wurden hier Burschen aus dem Hannoverschen unter Alkoholeinfluss und oft unfreiwillig „verpflichtet“. Karl May, der das Gasthaus ebenfalls besuchte, berichtet darüber in seinem Buch „Der alte Dessauer“. Jetzt trafen sich hier viele junge Menschen und Prominente der Stadt, die vom Frieden nach den Freiheitskriegen enttäuscht waren. Sie sorgten sich um die Entwicklung des Staates. Jeden Mittwoch wurde der „Goldene Stern“ Diskussionstreffpunkt, zu dem auch die Burschenschaftler kamen. Laut ertönte ihr Lied durch die Straßen:

„Brüder, so kann's nicht gehn, laßt uns zusammenstehn, duldet's nicht mehr! Freiheit, dein Baum fault ab!“

 

Laut Chronik von F. Möllmann trafen sich hier Fritz Reuter und sein Kommilitone Georg Klappenbach (bei Reuter: „Mien Fründ K. ut L.), beide 1832 Studenten in Jena, und gestalteten hier manchen patriotischen Abend, bevor Reuter im Zuge der Demagogenverfolgung 1833 inhaftiert wurde. Klappenbach war 1845 bis 1846 Bürgermeister in Anklam, bevor er nach Amerika auswanderte.


Lenzens Aufstieg

 

Um 1800 ist Lenzen Hauptort des gleichnamigen Kreises mit 42 Dörfern, 17 adligen Gütern und sechs Vorwerken. Die Einwohnerzahl der Stadt stieg von 2095 im Jahre 1801 auf 2883 im Jahre 1837; heute sind es 2050, womit wir beim Stand vor 1800 sind.

 

Beeindruckend liest sich die Liste der Handwerker und Gewerbetreibenden des Jahres 1801: 45 Schuster, 20 Schneider, zwölf Tischler, zehn Bäcker, neun Fleischer, sieben Böttcher, sieben Leinweber, sechs Tuchmacher, vier Hufschmiede, vier Kaufleute, vier Schlosser, drei Handschuhmacher, drei Sattler, drei Seiler, drei Stellmacher, drei Zimmerleute, zwei Barbiere, zwei Brauer, zwei Fischer, zwei Glaser, zwei Hutmacher, zwei Knopfmacher, zwei Lohgerber, zwei Maurer, zwei Nagelschmiede, zwei Weißgerber, ein Apotheker, ein Arzt, ein Bader, ein Buchbinder, ein Drechsler, ein Färber, ein Fuhrmann, ein Gastwirt, ein Kahnführer, ein Klempner, ein Kürschner, ein Maler, ein Musikus, ein Wassermüller, ein Nadler, ein Perückenmacher, ein Seifensieder, ein Töpfer, ein Ziegelbrenner, ein Zinngießer dazu kamen 30 Ackerbürger, zwei Gärtner, neun Hirten und Feldhüter. Zudem gab es 46 Beamte und Angestellte der Stadt.

 

Das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Selbstständigen, Gesellen und Lehrlingen ist uns aus dem Jahre 1861 überliefert. 170Selbstständige bildeten 28Lehrlinge aus und beschäftigten 77Gesellen.

 

Zu den Gewerken gehörte ein „Kunst-, Blumen- und Handelsgärtner“. Hierbei müsste es sich um den ältesten und noch existierenden Gärtnereibetrieb Lindow handeln, der 1853 gegründet wurde und bereits zur 1000-Jahrfeier von Lenzen mit einem wundervoll geschmückten Blumenwagen am Festumzug teilgenommen hatte.

 

Die Zahl der Handwerksbetriebe hat sich im Jahre 2004 gegenüber 1861 auf 29 (= 17Prozent) verringert. Dass heute ein Betrieb seine Dienstleistung mit Piercing & Tattoo anbietet, hat sich vor 150 Jahren sicher niemand träumen lassen.

 

Die Zahl der privaten Wohnhäuser stieg von 236 im Jahre 1801 auf 390 im Jahre 1900.

Schon um 1750 erfolgte eine deutliche Erweiterung der Stadt und zwar um die Hamburger Straße links bis zum Brink (der selbst erst 1913 entstand), die Flutstraße und die kleinen Häuser in der Berliner Straße links, wo die Leute ihren Hausschlüssel früher in der Dachrinne „versteckten“.

 

1819 wurde der neue und jetzt noch genutzte Friedhof eingeweiht. Ältere Friedhöfe existierten um die Kirche, hinter der Berliner Vorstadt und auf dem Hospital.

Im Jahre 1840 erbaute man die Kirchhofstraße und 1874 die „Bahnchaussee“, die heutige Friedrich-Ludwig-Jahn-Straße. Ferner entstanden der Schützenplatz und die Hagenpromenade. 1854 wurde, zeitgleich mit Perleberg, die städtische Sparkasse gegründet, die mit dem Stadtjubiläum in diesem Jahr ihren 150. Geburtstag feiern kann.

 

1893 wurde der Körbitz nach Lenzen eingemeindet. Der Bau der Gasanstalt erfolgte 1898 und am 15.August 1902 wurde die Stadt-Fernsprecheinrichtung in Betrieb genommen. Die Chaussee über Mellen, Dargardt an die Berlin-Hamburger Chaussee entstand 1868/69 und führte westlich Lenzens bis zum Hafen; die Chaussee nach Kietz entstand 1892 und die Chaussee Richtung Grabow bis an die mecklenburgische Grenze war 1901 im Bau. Wie in Breetz waren oft an der mecklenburgischen Grenze die gepflasterten Straßen zu Ende.


Maurermeister Adolph Müller

 

Einer interessanten Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts soll hier ebenfalls noch gedacht werden. Der in der Seetorstraße32 geborene Adolph Müller (1833-1901) war seit 1858 als Maurermeister und Steinmetz in Lenzen tätig.

 

Der Friedrich-Ludwig-Jahn-Obelisk in Lanz ist sein Werk. Gern wäre er „durch Malerei in das Reich der Künste“ gelangt und eine unentgeltliche Ausbildung war ihm zugesagt, doch sein Vater duldete dies nicht.

 

So begab er sich frühzeitig auf die Suche nach technischen Erfindungen. Er baute zum Beispiel eine Buttermaschine, die auf landwirtschaftlichen Ausstellungen vollen Erfolg hatte. 1876 reichte er beim Patentamt in Berlin den Plan zum Bau eines lenkbaren Luftschiffes ein. Als Müller dem Geheimen Baurat, der den Entwurf zu begutachten hatte, sagte: „Das Luftschiff wird länger sein, als das Berliner Rathaus hoch ist“, bekreuzigte sich der Herr und meinte herablassend: „Solch ein Kasten soll fliegen können?“ Man hat ihn als Phantast verlacht.

Professor Hugo Eckener, Nachfolger Graf Zeppelins, der Müllers Patentschrift später las, soll viele gute Worte darüber gefunden haben. Völlig resigniert zog Adolph Müller sich in die Einsamkeit zurück. Aber nicht für immer. Er begann, humorvolle Gedichte zu schreiben und diese zu vertonen.

 

Fritz Möllmann schrieb über Müller: „Er, der noch vor Wochen hinter verschlossenen Türen und verhangenen Fenstern im Schlafrock und mit dicken Tüchern umwickelt fröstelnd am Ofen gesessen hatte, wurde wieder wie einst ein munterer Knabe und dann ein froher Zechgenosse, der einen Kreis von Bekannten elektrisierte mit seinen Liedern vom Kuckuck am Hechtsfurt, von Lenzen und den scherzvollen Begebenheiten daselbst.“ In den Wirtshäusern der Stadt wurden seine Lieder mit Begeisterung gesungen.


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